Seiten

Montag, 4. Oktober 2021

Zeit

Heute beim Spaziergang stand mitten auf dem Dorfplatz mutterseelenallein ein anthrazitfarbenes, nicht ganz kleines Auto mit weißem Nummernschild. Jedes weiße Nummernschild im Dorf macht mich neugierig, und bei näherem Hinsehen entpuppte sich der Wagen als aus dem Westerwaldkreis kommend. WW-RK begann das Kennzeichen. 'Ein katholischer Pfarrer oder Dekan aus dem Westerwald' kam es mir in den Sinn. Ja, der katholische Westerwald…

Ein Pfarrbüro, irgendwo. Natürlich hatten wir damals andere Bildschirme.
Unvermutet wurde mir ganz traurig zumute, saßen die Tränchen Oberkante Unterlid. Mit heißer Wehmut dachte ich zurück an meine Zeit als Sekretärin im katholischen Pfarrbüro. Da war der Westerwald nicht ganz bedeutungslos; mein Pfarrerchef – damals zu Beginn noch keine 40, heute auch schon fast 71 Jahre alt – war gebürtig aus dem Westerwald. Und eine unserer eifrigsten, ehrenamtlichen Damen, die sich um die Altartücher und die Messgewänder kümmerte, auch.

Ganz plötzlich sehne ich mich zurück nach dieser Zeit Ende der 80er Jahre. Gerade die Mitte 30 überschritten hatte ich, war voller Lebenskraft, und von der ganzen Negativität, die uns alle noch heimsuchen sollte, war noch kaum etwas zu spüren. Zwar hatte die Ära Kohl schon begonnen, aber die Euphorie nach dem Anschluss der DDR an die BRD war noch ungebrochen, und kollektiv wurde von einer nunmehr friedlichen Welt geträumt.

Drei Mal in der Woche saß ich nachmittags ein paar Stunden im Pfarrbüro, nahm Telefongespräche an, rechnete Kollekten und Kosten mit dem Rentamt ab, machte Plakate für Orgelkonzerte, nahm Bestellungen für hl. Messen an ("wir beten in diesem Gottesdienst besonders für…."), hielt manches nette Schwätzchen oder tiefgründige Gespräch mit meinem Pfarrer-Chef, suchte Vertretungen für den Organisten oder einen Pfarrer, Diakon oder Pastoralreferenten, der eine Beerdigung übernehmen konnte (der Pfarrer hatte nur eine halbe Stelle), hatte ein offenes Ohr für die Menschen, die zu uns kamen und eine oder zwei Mark in der "Bettlerkasse"  für "Durchwanderer" (die wir ansonsten

Eigentlich hätte ich ihn schon daran erkennen müssen, den Bischof

durchweg weiterverwiesen an die Caritas oder andere Instanzen des nicht ganz schlechten Hilfsnetzwerks) und erkannte den Bischof nicht, als er eines Nachmittags im schwarzen Anzug mit seiner unvermeidlichen, klassischen Baskenmütze in der Hand kurz den Pfarrer sprechen wollte, ehe er gegenüber im Rundfunk zur Aufnahme einer Morgenfeier o.ä. ging. Pfarrer aber war gerade in der Dienstagnachmittagmesse und Bischof sagte: sagen Sie ihm einen Gruß, ich komme dann ein ander Mal.

Obwohl mir manches in meinem damaligen Leben, offiziell studierte ich im Zweitstudium und dies war nur eine 25%-Stelle, gehörig auf den Senkel ging, sage ich heute im Rückblick: damals war ich glücklich!

Ein tiefes Seufzen macht sich Luft, während ich mir am Ufer des Hafens noch ein paar Minuten die Zeit vertreibe in der Hoffnung, dass der Eigentümer des PKW zurückkommen möge. Wer weiß… bei dem Nummernschild…

Er tut mir nicht den Gefallen. Irgendwann muss ich weiterziehen auf meinem Spaziergang durchs Dorf.

Mein anderer kirchlicher Arbeitsplatz 2005 mitten im Elend
der Umstrukturierung, verklärt von der Patina der Erinnerung

Die Wehmut bleibt mir noch eine Weile erhalten; ich sinniere darüber, wie es mit mir danach weiterging. Wie eine andere, auch anderskonfessionelle, kirchliche Arbeitsstelle ein paar Jahre später erst halbtags, dann voll dazukam, wie enorm glücklich ich auch in dieser Arbeitsstelle war und eine Zeit lang 125% arbeitete, bis ich, vom Chef der Ganztagsstelle gebeten, das Pfarrbüro aufgeben musste. Wie dies Glücksgefühl dann durch Umstrukturierung zerstört wurde und ich schmerzlich Zeugin werden musste, dass der Primat der Ökonomie Einzug hielt auch ins kirchliche Arbeiten. Aus die Maus mit dem menschenfreundlichen "Tendenzbetrieb" und seinem angenehmen Arbeitsklima.

Auch schon wieder so lange her…
Gelebtes Leben.
Lebenszeit.

Was ist seit dem schon wieder alles passiert...

Mit all diesen Erinnerungen geht – von heute aus gesehen, in dieser speziellen historischen Situation, in der wir nun sind – eine enorme Wehmut einher. Ich komme mir vor wie meine eigene Großmutter, als ich mich bei dem Gedanken ertappe, dass die Entwicklungen seitdem wirklich keinen Anlass zum Jubeln geben. Dieses 'ja, damals'-Gefühl...

Der aktuelle Zustand unserer Gesellschaft und unserer politischen Systeme, die Lebensregeln, denen wir seitens der Politik nun unterworfen sind, machen es einer schwer, ein Wohlfühlen zu entwickeln.

Als Foto eine Erinnerung, aber der Ort gehört zu meiner Gegenwart:
die alte Brücke von 1916 übers Muntendammer Diep in Zuidbroek


 

 

Etwas in mir weiß, dass es dennoch unabdingbar ist, positive Gefühle in sich zu pflegen, hochzuhalten. So schwer es auch ist. Nach Herzkohärenz zu streben, wie manche es nennen. Ich kann auch sagen: liebevoll mit mir umgehen. Dankbar sein.
Der Sonnenschein, der uns heute bei unverschleiert blauem Himmel geschenkt wird, an dem höchstens ab und zu ein paar Ansichtskarten-Wölkchen entlangziehen, hilft dabei.

Und so verabschiede ich mich von der Wehmut und schaue mit anderen Augen nach meinen Erinnerungen:
Über welch einen reichen Schatz an glücklichen Zeiten und Erinnerungen verfüge ich doch, wenn ich zurückschaue!

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen