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Dienstag, 19. Mai 2020

Fernweh



Ein wunderbarer, sonniger, nicht zu warmer Maienmorgen. Da später wieder mehr Wolken aufziehen sollen, mache ich meinen Spaziergang gleich nach dem Spätstück (Frühstück wäre gelogen). Wie meistens, laufe ich als erstes durch den Park. Kein Mensch sonst ist unterwegs. Es sind auch keine Enten, Blesshühner oder Teichrallen zu sehen. Nur Bäume, Sträucher, Wiese, Wasser, Riedgras, gelbe Lilien, Wind. Und Stille. Ich genieße nach Strich und Faden, verbinde mich zwischendurch mit verschiedenen der markanten Baumpersönlichkeiten und laufe langsam Richtung Bahnstation.

 
Das Museum im Historischen Bahnhof ist noch immer C-Virus-bedingt geschlossen. Das macht mich traurig. Es sollte normalerweise an einem Sonntagmorgen kurz nach 10 Uhr so langsam aufwachen. 
Durch die großen Fenster schaue ich nach innen, wo die Sonderausstellung über "Zugbeleiter und Lokführer" seit mehr als zwei Monaten von niemand mehr betrachtet werden kann.

Und dann beschließe ich, statt meinen Weg über die Straße weiter zu verfolgen, heute einmal über den Bahnsteig zu laufen. Seit ebenfalls mehr als zwei Monaten bin ich nicht mehr hier gewesen.
Alles wie ausgestorben. Stille.
Und dann auf einmal schlägt das Fernweh zu.
Ich will wieder Bahnfahren können! Will wieder frei und ungehindert dorthin reisen können, wohin ich möchte!Wieder nach Frankfurt fahren. Wieder mit meiner Freundin einen Tagesausflug nach Amsterdam, Amersfoort, Deventer oder was-weiß-ich-wohin machen! Einfach mit der OV-chipkaart einchecken und losfahren!
Aber.
 
Währenddessen schlendere ich über den Bahnsteig. Auf einmal fällt es mir auf: es hängt keine einzige Reklame hier, weder auf diesem Bahnsteig, noch auf jenem gegenüber. Die Reklametafeln, auf denen sonst für H&M, irgendeinen supergünstigen Handytarif, eine besonders fröhliche Start-in-den-Morgen-Sendung im Radio xy wirbt – leer. Tabula rasa. Weiße Fläche.

*Das* habe ich überhaupt noch nie gesehen: keinerlei externe Werbung mehr auf dem Bahnhof. Kaum etwas könnte das Ausmaß der C-Virus-Krise deutlicher veranschaulichen.  Es gibt keine Reisenden mehr, für die sich die Ausgaben für Werbung lohnen würden. *)  

Sehr nachdenklich und still gehe ich weiter. Es hat mir die Reiselust ein bisschen verschlagen.

 



Kurz darauf fallen mir noch die Hinweise zum 'richtigen Verhalten' im Bus in C-Virus-Zeiten auf, die im Schaukasten neben dem Fahrplan hängen. Die inzwischen jedem und jeder bekannten Verhaltensweisen.
In Deutschland würde wahrscheinlich neben der deutsch- und englischssprachigen Version eine weitere in türkischer Sprache hängen. Hier hängt eine auf Arabisch. Hinweis darauf, wie viele marrokanisch-stämmige Immigranten es hier in den Niederlanden gibt.

 




Allmählich finde ich im Weitergehen mein Glücksgefühl aus dem Park zurück.
Gut denn. Ich kann nicht reisen.
Was will der Dichter damit sagen? Vielleicht, dass ich hier mehr ankommen soll? Neben dem Heimatgefühl 'Frankfurt' auch ein Zuhausegefühl 'Zuidbroek' entwickeln? 

 


Und während ich meinen Weg fortsetze und die aus dem Dorf herausführende Straße überquere, das Muntendammerdiep erreiche – das früher eine viel befahrene Wasserstraße war, voller Lastkähne – schaue ich mir aufmerksam um. Immerhin lebe ich in einer Gegend, in der andere Urlaub machen.

Ich.lebe.in.einer.Gegend.in.der.andere.Urlaub.machen!

So geschieht, worüber ich schon viel gelesen habe. Mit dem veränderten Standpunkt sehe ich alles neu. Sehe meine Umgebung, die ich schon lange nur noch als Dekor, Bühnenbild meines gefühlt ewiggleichen Dorfalltags abgestempelt habe.
Wie schön es hier ist! Was für idyllische Blicke sich mir bieten, und zwar schlicht auf meiner, unserer täglichen Spazierroute. 
Dieses von nicht viel Leben mehr erfüllte Muntendammerdiep sieht doch eigentlich ganz romantisch aus.
 









 
Und der kaum benutzte Seitenarm unseres "Passantenhafens" (Yachthafens) sieht auch ganz bezaubernd aus, wenn man richtig hinschaut. Zum ersten Mal in den fast 8 Jahren, die ich jetzt hier wohne, laufe ich über den hölzernen Anleger, ganz dicht am Wasser.
Entdecke eine kleine Entenfamilie mit 2 Küken.
 








Dann wieder ein romantischer Blick, in Richtung Winschoterdiep, mit der alten Hebebrücke aus 1916 im Bild, die nur im Handbetrieb bewegt werden kann. Darüber führte damals der Hauptzugangsweg aus dem westlich gelegenen Sappemeer ins Dorf. Heute bewegen sich hier nur noch Fußgänger und Fahrräder; Autos fahren einen Bogen und dann über eine feste Brücke, von der man nicht einmal merkt, dass es eine Brücke ist.

So verfolge ich mit neuer Aufmerksamkeit meinen Weg weiter auf unserer täglichen Spazierroute und komme mit einem glücklichen Gefühl bei unserem Haus an.

Wie war das gleich wieder? "Elk nadeel heb z'n voordeel." (Johan Cruijff)

 
*) Inzwischen weiß ich, dass meine Interpretation falsch war. Hinter den weißen Flächen steckt ein ökonomischer Streit eines Anbieters von solcher Reklame. Er hatte letztes Jahr die Eisenbahngesellschaft NS (Nederlandse Spoorwegen) verklagt, weil ein Mitbewerber den millionenschweren Reklamevertrag ohne europaweite Ausschreibung erhalten hatte. Und Recht bekommen. Nun muss ausgeschrieben und neu kontraktiert werden.

Für meine Begriffe bleibt es aber ein wunderbares Sinnbild, dass dies gerade jetzt so ist.

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