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Montag, 8. März 2021

Übermut tut gut

Im Friedenszirkel mit der wunderbaren Antoinette Haering haben wir Teilnehmenden uns vorgenommen, Dialoge mit inneren Anteilen zu führen, die wir im Lauf unseres Lebens vernachlässigt, an den Rand geschoben, ignoriert haben oder die uns im Gegenteil lästig sind, uns drücken, schieben, plagen, offen oder vom Untergrund aus. Man nimmt dabei Kontakt auf, z.B. über Gefühle, und führt einen inneren Dialog, den man während er stattfindet, gleichzeitig aufschreibt.

Gerade habe ich ein solches Gespräch mit meinem Übermut gehabt. Nein, ich werde euch jetzt nicht haarklein erzählen, was er mir alles so erzählt hat. Das könnte euch so passen. Nur so viel: es war ein lebendiger, anregender, überraschender und humorvoller innerer Dialog. Wachmachend. Ermutigend.

Bewusst geworden ist mir, dass tatsächlich so etwas wie Übermut im positiven Sinn – sicher in den letzten 12 Monaten – völlig auf der Strecke geblieben ist. Und dass dadurch eine Menge Leben und Lebendigkeit aus dem All-Tag verschwunden sind.

Wobei mit Übermut hier nicht diese Form von selbstüberschätzendem Leichtsinn gemeint ist, die Goethe im "Zauberlehrling" zum Beispiel zum Thema gemacht hat. Überhaupt hat Übermut in Literatur und Philosophie einen eher schlechten Leumund. Habe ich gemerkt, als ich dazu im www ein wenig herumgeschnüffelt habe. Zwischen 38 Aphorismen zum Thema z.B. habe ich nur wenige gefunden, die Übermut als etwas Positives wahrnehmen können, und die meisten davon stammen von Autoren, die im 20. Jahrhundert geboren sind. Diese paar gefallen mir gut. Ich bin auch im 20. Jahrhundert geboren.

Stefan Wittlin wird zitiert mit
"Lieber übermütig als unterwürfig"


"Zweifelhafter Fortschritt:
Der Übermut wurde ihr ausgetrieben.
Dann verfiel sie der Schwermut."
schrieb der Kapuzinermönch Walter Ludin.

"Zur Lebenslust gehört auch ein bisschen Übermut." ist eine Aussage von Ernst Ferstl.

François de Larochefoucauld bescherte uns bereits im 17. Jahrhundert den wunderbaren Satz "Wer ohne Luftsprung lebt, ist nicht so vernünftig, wie er glaubt."

Damit haben wir uns schon ganz gut dem genähert, was mir in meinem inneren Dialog heute Abend deutlich geworden ist. All die permanent schrecklichen Nachrichten und die Restriktionen, denen wir alle nun seit mehr als einem Jahr ausgeliefert sind, lähmen. Drohen immer wieder, einen undurchdringlichen Grauschleier über das komplette Leben zu leben.

Dem gilt es – das ist inzwischen schon beinahe ein dreitägliches 'ceterum censeo' geworden – Buntheit entgegenzusetzen. Es geht darum, sich innerlich frei zu machen aus dem Beengenden, Beängstigenden, sich frei zu machen aus all den "dies ist verboten und das ist verboten, das darf man nicht, und jenes ist auch viel zu gefährlich". Statt dessen die Möglichkeiten sehen, die da sind. Sich von dem Beengenden befreien, wann immer es verantwortet geht. "Übermütig sein, keine Hemmungen haben, über sich hinauswachsen" – so hat es 2017 eine Stadtmarketingaktion in Hamburg beschrieben. Man könnte auch sagen: über die Stränge schlagen.


Dies bei Gelegenheit sich selbst zu zu gestehen, kann gerade in dieser Zeit enorm heilsam sein. Gesundheitsfördernd. Glücklichmachend.


 

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