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Donnerstag, 6. Mai 2021

Traurig

Vor einiger Zeit erreichte uns ein grauer Briefumschlag mit grauer Trauerbriefmarke. Die
Adresse handgeschrieben mit einer für uns beide unbekannten Handschrift, wie in solchen Fällen üblich, ohne Absender. In unserem Alter entsteht dann sofort die Frage: wer von unseren Bekannten, den entfernteren Verwandten meines Mannes oder wer von seinen Freunden mag verstorben sein? Ein beklemmendes, bangendes Gefühl macht sich breit.

Ein betagter, aber noch nicht hochbetagter Freund meines Mannes in Brabant, den wir im vergangenen Sommer noch besucht haben, hat nun doch diese Welt verlassen. Wir sind beide betroffen, traurig, nachdem wir die Nachricht gelesen haben. Lebendig ist die Erinnerung an diesen kurzen Nachmittag zu viert im kühlen Haus bei äquatorialen Außentemperaturen. Ach, er hatte so viele Pläne und war so zuversichtlich über seine Zukunft.

Normalerweise wären wir selbstverständlich zur Trauerfeier nach Brabant gefahren. Deren Ort steht aber gar nicht auf der Trauerkarte. Statt dessen steht an der dafür üblichen Stelle ein Link und der Hinweis: sie können am soundsovielten um soundsoviel Uhr der Trauerfeier hier online folgen. Die eingedruckte Linkadresse beginnt mit der Website-Adresse des landesweit agierenden Bestattungs-unternehmens und enthält dann individuelle Kennziffern.

Eine gestreamte Trauerfeier?

Natürlich sitzen wir zum angegebenen Zeitpunkt gemeinsam vorm Notebook, um virtuell teilzunehmen und in unserem Innern Abschied von diesem wunderbaren Menschen zu nehmen.

Mit professioneller Kameraführung und Schnitten wird die Trauerhalle gezeigt, in der die wenigen geladenen Teilnehmer allmählich eintreffen. Coronaproof mit Masken, und sie werden in großem Abstand zu einander von den Mitarbeiterinnen des Bestatters – auch maskiert natürlich -  empfangen und plaziert. Die Familie ist schon da, und auchFamilienmitglieder sitzen coronaproof von einander entfernt. Nur die Witwe und einige der erwachsenen Kinder und jungendlichen Enkel sitzen etwas dichter bei einander.

Nun wird der Sarg hineingefahren. Alle stehen auf. Sargbegleiter sind die erwachsenen Enkelsöhne und Söhne des Verstorbenen. Ein überaus befremdlicher Anblick, alle mit Maske vor Mund und Nase.

Der Sarg bekommt vorne in der Mitte seinen Platz. Sargbukett. Blumenschmuck. Kerzen. Alles wie man es gewohnt ist. Ein Foto des Verstorbenen aus dem letzten oder vorletzten Jahr, das sein Wesen wunderbar eingefangen hat, steht auf einer Staffelei daneben, auch das wie bei einer Trauerfeier hier üblich. Befremdlich ist nur, dass wir den Duft der Blumen nicht riechen, auch nicht das verbrennende Wachs der Kerzen. Befremdlich ist, dass wir die Atmosphäre der Anwesenden nicht spüren und der Klang der abgespielten Musik aus unseren kleinen Notebook-Zusatzlautsprechern kommt. Und dass wir gemeinsam auf unseren Esszimmerstühlen am Esstisch sitzen und auf den Bildschirm des Notebooks starren.

Es ist eine nicht-religiöse Beerdigung. Anders als in Deutschland, spricht dann kein Trauerredner, der irgendwie die Rolle des Pfarrers einnimmt. Die als Zeremonienmeisterin fungierende Angestellte des Bestatters sagt einleitende Worte, und dann nehmen Familienmitglieder – Kinder und Enkel – mit jeweils eigenen Texten Abschied von Vater und Opa und gedenken seiner, vor allem indem sie erzählen, wie ihre spezielle Beziehung war.

Die Kamera wird in relative Nahaufnahme auf die Sprechenden gezoomt. Natürlich fließen Tränen, brechen Stimmen, können Sätze nicht zuende gesprochen werden, weil die Emotion die Angehörigen übermannt. Das sehen wir nun groß auf dem Bildschirm und hören es sehr direkt, viel deutlicher als wir das gesehen und gehört hätten, wenn wir in der Trauerhalle gesessen hätten.

Möchte ich das? Möchte ich so nah Auge in Auge mit den mühsam in Schach gehaltenen Emotionen der den Verlust betrauernden Familienmitglieder in Kontakt kommen? Emotionen von Menschen, die ich nie gesehen habe, zu denen ich keine persönliche Beziehung habe, die ich wohl auch nie von Angesicht zu Angesicht sehen werde. Selbst wenn wir irgendwann nach Brabant kommen und die Witwe besuchen, würden wir aller Wahrscheinlichkeit nach niemand von ihnen treffen. Und wenn doch – wie würde sich das anfühlen, nachdem ich via Livestream so an ihren intimsten Emotionen teilgenommen habe?

Irgendwann hat die Zeremonienmeisterin wieder das Wort und erzählt in kurzen Worten über die letzten Wochen des Verstorbenen. Wie es ihm ging, welche Erkrankung schließlich den Tod mit sich brachte.

Immer wieder muss ich schlucken, fühle meine eigene Traurigkeit auftauchen, Tränen aufsteigen. Ich hätte diesem verstorbenem Freund meines Mannes noch all die Jahre gegönnt, die er noch hatte erleben wollen. Und, wie immer bei Beerdigungen, ist es auch Traurigkeit über die eigene Vergänglichkeit. Über die Zerbrechlichkeit des Lebens. Über die Zerbrechlichkeit von allem. Alles, was gerade noch verlässlich und sicher sich anfühlt, ist immerwährendem Wandel unterworfen. Kann im nächsten Augenblick ganz anders sein. Abschiede stehen andauernd an.

Ich denke an Prediger Kapitel 3: Alles hat seine Zeit.

Dann erscheint eine ausführliche Präsentation mit Fotos aus dem Leben des Verstorbenen auf dem Bildschirm. Familienfotos. Der gesamte Lebensweg in Bildern. Mit Musik untermalt, die er liebte. Die Menschen in der Trauerhalle sehen dies wahrscheinlich auf einem großen Bildschirm, der irgendwo im Raum hängt. Im Livestream wird die Präsentation direkt abgespielt. Wieder fehlt das atmosphärische Gefühl der anderen Anwesenden, das Gefühl der Räumlichkeit. Und wir Zuschauer zuhause, oder sind wir doch Mitgedenkende?, werden sehr direkt im Vollbild hineingezogen in dies nun abgeschlossene Leben, an dem mein Mann auch als Freund und ehemaliger Nachbar doch nur einen peripheren Anteil hatte. Wir sehen sehr persönliche Szenen der Familie, Urlaubsfotos, das junge Paar beim Tanzen, das gereifter gewordene Paar beim Tanzen, Kinderfotos, Festfeierfotos, Karnevalsfotos (Brabant ist, wie die Provinz Limburg, Karnevalshochburg – im Rest von NL wird Karneval eher nicht gefeiert), Weihnachtsfotos. Ganz dicht, ganz nah, in unserem Wohnzimmer, am Esstisch sitzend.

Und wieder frage ich mich: will ich das? Es fühlt sich nicht richtig an, so intim teilzunehmen an diesem vergangenen Familienleben. Auch wenn die Familie sich entschieden hat, es zu teilen.

Denn es macht einen großen Unterschied, ob ich das als Anwesende in der Trauerhalle auf einem entfernt stehenden Bildschirm sehe. Oder ob es mir so direkt im Vollbild ins eigene Wohnzimmer gesendet wird. Wir lernen den verstorbenen Freund meines Mannes besser kennen, als er ihn je gekannt hat und sowieso näher, als ich diesen Freund meines Mannes je hätte kennenlernen können. Ob sich die Familie dieser Tatsache bewusst ist? Des Unterschieds bewusst ist, den es macht, diese Präsentation so distanzlos, so hautnah zu erleben?

Es ist bei aller Berührtheit eine seltsame Erfahrung, so eine Trauerfeier im Livestream. Genauso seltsam wie die sparsamen Gesten der Anteilnahme und wenigen, beinahe schüchternen Berührungen der Familienmitglieder untereinander, immer zerrissen zwischen Abstandhaltenmüssen (das 1,5-Meter-Absperrband im Kopf) und einander stützen wollen, einander nah sein wollen.

Man kann sagen: eine schöne Sache, dass es das gibt, solche Trauerfeier-Livestreams. So können alle, die es wollen, doch noch auf irgendeine Weise des verstorbenen Freundes, entfernten Verwandten, Bekannten, Nachbarn, Vereinsbruders, gedenken.

Bei mir überwiegt trotz allem ein ungutes Gefühl. So etwas ist – obwohl für die in der Trauerhalle Anwesenden voll von tiefen emotionalen Erfahrungen – für mich als PC-TV-Zuschauer fahl. Wie ein Film. Leben aus zweiter Hand. Ausgerechnet da, wo es um den Abschied aus dem Leben geht.

Ich bin traurig. Nicht nur über den Verlust des Freundes. Nicht nur über seinen doch irgendwie für uns Außenstehende unzeitigen Tod. Nicht nur über die Endlichkeit des Lebens.

Auch über das, was uns wieder einmal die Maßnahmen angetan haben. Weggenommen haben.

Was das Unechte, das Gefühl von Pseudo gerade beim Gedenken zum Abschied von einem Verstorbenen betrifft, muss ich an die Tötungsanstalt im Film "Soylent green" denken, in die Menschen gehen, wenn sie Ihr Leben als beendet betrachten. Wo sie mit eigens ausgesuchter Musik und zwischen hyperrealistischen Fotos wunderbarer Landschaften "sanft" euthanasiert werden. Den Film habe ich als junge Erwachsene gesehen.

Ich schaue eben in Wikipedia nach, unter welchem Titel der 1973 herausgekommene Film in Deutschland lief.
"…Jahr 2022…die überleben wollen"

Jetzt bin ich nicht nur traurig. Jetzt gruselt es mich.


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