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Montag, 26. Juli 2021

Inselgefühl

Im Naturgebiet Reiderwolde
Am Samstag waren wir Spazieren im Naturgebiet Reiderwolde bei Winschoten. Dieses ca. 200 ha große Gebiet wurde vor 15 Jahren durch eine Gruppe von Bauern der Agrarischen Naturvereinigung Ost-Groningen eingerichtet. Inzwischen ist es ein wirklich schönes Stückchen Ost-Groningen, in dem das Flüsschen Tjamme wieder in seinem früheren, mäandernden Bett fließt.

Von unserer Wohnung aus ist es nur mit dem Auto zu erreichen.

So waren wir Samstagnachmittag unterwegs auf der Autobahn Richtung Winschoten, die in ihrer Fortsetzung zur deutschen Grenze und zum Autobahndreieck Bunde führt, wo sie mit der deutschen A31 zusammentrifft, dem Highway ins Ruhrgebiet bzw. in der anderen Richtung nach Oldenburg und Bremen. Unterwegs wurden wir von enorm vielen Autos mit weißen Nummernschildern überholt (wir hier in den Niederlanden habe gelbe Nummernschilder). Massenhafter Rückreiseverkehr nach Deutschland. Ungewöhnlich. Mitten in der Sommerferienzeit.

Und dann erinnerte ich mich an die Radiosendung "Met het oog op morgen" (Mit dem Blick auf morgen) vom Abend vorher. Dort war eine deutsche Journalistin interviewt worden, die als Korrespondentin in den Niederlanden tätig ist. Übrigens ist es immer ein kurioses Gefühl, andere Deutsche Niederländisch sprechen zu hören und den krassen deutschen Akzent überdeutlich wahrzunehmen. Man selbst denkt ja immer, dass man die Sprache perfekt beherrsche...

Thema im Interview, wieder einmal: das Krönchen, das große C. Und die aktuellen Regelungen.

Die Journalistin erklärte der Moderatorin, dass die Niederlande ab Sonntag als Hochinzidenzgebiet eingestuft seien, was bedeute: nach Rückreise aus den Niederlanden 10 Tage Quarantänepflicht, auch mit negativem Test. Mit erneutem negativem Test nach fünf Tagen darf diese vorzeitig beendet werden. Ausgenommen: Genesene und komplett Geimpfte. Die brauchen gar nicht in Quarantäne.
Diese Ausnahme ist natürlich seuchenpolitisch kompletter Unsinn. Auch komplett Geimpfte können ja das Virus weitergeben können und auch selbst erkranken können. Für letzteres habe ich in meinem erweiterten Bekanntenkreis zwei Beispiele. Aber das steht auf einem anderen Blatt Papier.

Wessen wir also auf unserer Fahrt zum Spaziergang Zeugen wurden, war wohl eine Art 'Massenflucht' deutscher Touristen. Schnell vor der Quarantänepflicht wieder zurück nach Deutschland.
Kopfschüttelnd schaute ich mir das absurde Schauspiel an. Wieder ein weißes Nummernschild. Berlin. Und noch eines. Gotha. Wieder einer, Dortmund. Da einer aus Hessen! Undsoweiter.

Das Interview, besser gesagt die Antworten der deutschen Journalistin, waren noch in anderer Hinsicht aufschlussreich.

Auf die Frage, worauf sich diese aktuelle Einstufung der Niederlande basiere, nannte sie die 7-Tage-Inzidenz, also die berühmte Anzahl der in den letzten 7 Tagen neu positiv PCR-Getesteten auf 100.000 Einwohner. Die war am 24.7. in den Niederlanden 360. Heute, am 26.7. liegt sie bei 266. Die Journalistin erzählte weiterhin, dass die Inzidenz als alleiniges Kriterium allerdings in Deutschland jetzt auch – wie in den Niederlanden schon länger – immer mehr in Frage gestellt werde. Man müsse vielmehr nach den tatsächlichen Aufnahmen ins Krankenhaus und der Anzahl intensivmedizinisch Behandelter Covid Patienten schauen. Beides sei in den Niederlanden in keinem dramatischen Bereich.

Das Gespräch drehte sich weiter um die Situation der Urlaubsrückkehrer nach ihrer Ankunft. In gut niederländischer Manier, die Menschen gehen hier öfter mal relativ flexibel mit Regelungen um, fragte die Moderatorin danach, wer das denn wie kontrolliere, ob mit dem Auto Reisende nach ihrer Rückkehr sich brav melden und in Quarantäne begeben. Grenzkontrollen seien doch so gut wie nicht durchführbar.

Screenshot des inzwischen offline geholten Formulars der Stadt Essen
Die deutsche Journalistin: die Leute würden sich auch ohne Kontrolle weitestgehend an diese Regelungen halten. Zum Einen seien die Deutschen sowieso zu einem hohen Prozentsatz sehr regelgetreu. Dazu käme, dass in Deutschland eine ziemliche Gesundheitsangst herrsche, man schon aus purer Furcht vor der Verbreitung alle Maßnahmen mitmache.

Im übrigen gäbe es in Deutschland ein hohes Maß an sozialer Kontrolle. Nachbarn, Freunde und Verwandte wüssten ja im Allgemeinen, dass man im Urlaub in den Niederlanden gewesen sei. Da müsse man schon damit rechnen, dass jemand aus der Gruppe darauf reagieren würde, wenn man sich nicht an die Quarantäneregeln hielte.
Das hat sie aber schön gesagt.
Eine sehr dezente Formulierung der Tatsache, dass die Bereitschaft zur Denunziation in Deutschland nicht gerade niedrig ist.

Eines der Dinge, die mir im letzten Jahr besonders bitter aufgestoßen sind. Ich hätte das nicht für möglich gehalten, 75 Jahre nach Ende des Dritten Reiches und 31 Jahre nach Ende der DDR. Die Tatsache, dass es Städte gab, die auf ihren offiziellen Websites unverhohlen zur Denunziation aufriefen, belehrte mich eines anderen.

Nun sind sie also wieder weg, die deutschen Touristen. Wir sind wieder unter uns hier in unserem kleinen Ländchen. Wieder stellt sich bei mir ein Gefühl ein ähnlich dem letztesJahr während des zweiten Lockdowns.  Damals nannte ich das einen Gläsernen Vorhang. Jetzt ist es eher ein Gefühl wie auf einer der Ostfriesischen Inseln am Abend, wenn die letzte Fähre abgelegt hat. Eine gewisse Stille stellt sich ein. Erst jetzt fühlt es sich wirklich wie auf der Insel an. Ich kann nicht mehr ohne weiteres weg. Es kommen nicht mehr ohne weiteres neue Touristen an. Man ist unter sich. Ein bisschen isoliert, ein bisschen abgeschnitten vom Rest der Welt. Aber auch abgeschnitten von der Umtriebigkeit des Restes der Welt.

Das ist natürlich ein sehr subjektives Gefühl, genährt von der Situation hier im sowieso eher leeren Norden der Niederlande. In Amsterdam oder anderswo im übervollen Westen würde die Empfindung vielleicht nicht so entstehen und hörte ich noch immer ein kunterbuntes Sprachgemisch. Ich muss aber sagen, das hier hat was.

So ähnlich wie im vergangenen Jahr, als der Himmel klar blau, wolkenlos und frei von jeglichen Düsenflugzeugspuren war, bringt auch diese erneute Abgeschlossenheit gegenüber Deutschland (wie Belgien es im Augenblick den Niederlanden gegenüber handhabt, habe ich nicht recherchiert) ein Innehalten mit sich. Da schaut sie wieder um die Ecke, eine der Chancen dieser Pandemie-Situation. In sich hineinfühlen. Vielleicht das Leben anders, neu einrichten. Prioritäten verändern. Gewohnheiten hinterfragen.

Persönlich bin ich damit sowieso immer wieder befasst, seit im März letzten Jahres die ersten Maßnahmen verkündet wurden. Nichts ist mehr wie vorher. Und es wird auch nie wieder wie vorher werden.

Immer wieder ist diese C-Situation für Überraschungen gut. Jeder Gedanke: 'jetzt ha'm wir aber alles durch und können uns entspannen' wird in kürzester Zeit durch eine noch krudere, noch kuriosere Realität im Außen widerlegt. Da hilft nur Stille im Innern.


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