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Montag, 25. April 2022

Besuch

 

 


Wir bekommen Logierbesuch!

Die Tochter meines Mannes mit ihren beiden Kindern von 11 und 15 Jahren plus ein mittelgroßer, ungestümer Hund kommen für drei Tage aus dem Westen des Landes angereist. Seit Januar 2020 haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich bin gespannt, wie sich alle verändert haben werden.
So wie wir uns auch verändert haben.

Der ganze Besuch ist eine spannende Angelegenheit.

Wieder einmal wird mir bewusst, wie viele Kulturtechniken und Seinsweisen ich durch die C-Maßnahmen-bedingte Isolation und das Beschränktsein auf mein all-tägliches, dörfliches Umfeld verlernt bzw. verloren habe. Abgesehen von ein paar sehr vereinzelten Kurzbesuchen anlässlich unserer Geburtstage und ein, zwei Mal in den gesamten drei Jahren jemand, der auf ein Tasse Kaffee vorbeikam, haben wir niemand zuhause empfangen. Ach ja, doch, Handwerker. Den Waschmaschi-nen/Spülmaschinen-Reparateur. Den Malermeister zwecks Kostenvoranschlag des sehr notwendigen Anstrichs unserer Holzfenster und einzelner Heizkörper. Den Sachverständigen, der die Gasbeben-schäden aufgenommen hat. Den Installateur.
Vor 2020 kam auch der Fensterputzer immer auf eine Tasse Kaffee herein, wenn er unsere nach außen aufgehenden Fenster von draußen wieder durchsichtig gemacht hatte. Mit dem großen C fiel das weg, wegen gefährlich.

Und jetzt also Logierbesuch.
Ganz schön aufregend.

Wie geht das eigentlich, ein paar Tage mit anderen Menschen unter einem Dach zusammen-leben? Wie wird das funktionieren mit all den Kapriziositäten, die mein Körper sich in den letzten zwei Jahren zugelegt hat und die mir ein striktes tägliches Schema aufzwingen? Mit diesem ganz festen Ritual an Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten und bestimmten Tees zu bestimmten Zeiten... Mit all den Dingen, die ich inzwischen nicht mehr vertrage? Mit meinem regelmäßigen Ruhebedürfnis am Nachmittag?

Oh ja, diese zwei Jahre in Isolation und ständigem Bedrohungsszenario, von dem immer wieder aufs Neue mich abzunabeln die Herausforderung war und ist, haben nicht gut getan. Dauer-Stress, trotz aller Meditationen und Übungen.

Auch die Wohnung will wieder vorzeigbar gemacht werden gegenüber anderen Menschen. Wenn man nur noch zu zweit so still vor sich hin lebt, entwickeln sich, auch was das betrifft, Rituale und Gewohnheiten. Es entstehen Ecken und Flächen, an denen sich das eine oder andere ansammelt, mal eben zur Seite gelegt, weil es irgendwo störte. Oder die nur in in großen Abständen Bestandteil der Saubermach-Routine sind, weil man nicht täglich dort lebt.

Es erschreckt mich, wie sehr diese zwei, drei Jahre zugeschlagen haben und aus mir eine andere gemacht haben als die, die ich bis Mitte 2020 war. (Bis dahin gab es wider besseres Wissen noch Optimismus und Hoffnung, dass Freiheit zu voller Lebendigkeit zurückkäme). Damals machte ich meine letzte, längere Reise. Damals war mein letzter Aufenthalt in Deutschland.

Inzwischen würde ich solche 8-Stunden-Reisen rein körperlich durch all die Kapriziositäten nicht mehr durchhalten. Die Störung des täglichen Rhythmus in den Mahlzeiten und Getränken würde wahrscheinlich wochenlange Arrhythmien in der Verarbeitung des zu mir Genommenen hervorrufen.

In der aufgezwungenen Isolation bin ich zu einer Art Klausnerin geworden. Unfreiwillig. Einerseits immer wieder aus der Einsamkeit herauswollend. Andererseits voller Zweifel, ob ich wohl in der Lage bin, die auf mich einstürmenden Eindrücke und Herausforderungen des Zusammenseins mit mehreren anderen Menschen mehr als ein paar Stunden aushalten zu können.

Mit dieser Verformung meines So-Seins bin ich nicht allein. Ich beobachte sie bei vielen Menschen um mich herum. Und die Ergebnisse verschiedener Studien geben beredt Zeugnis davon ab, wie sehr diese ganzen Maßnahmenjahre den Menschen geschadet haben:

Magersucht bei Jugendlichen in Deutschland (alle im folgenden genannten Zahlen betreffen Deutschland) z.B. hat sich in der Pandemiezeit verdoppelt. Die Hälfte der im Rahmen von Studien befragten Kinder und Jugendlichen leiden unter Depressionen, ein fast genau so hoher Prozentsatz unter Angstsymptomen, und Alkoholmissbrauch wurde bei 16% der befragten Jungen und Mädchen festgestellt. Die Fallzahl der Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen, untersucht in einer Studie der Uniklinik Essen, hat sich im Vergleich zur Vor-C-Zeit vervierfacht.
Daten, die Ältere betreffen, liegen bei der Sterbegeldversicherung Monuta vor. Auch hier zeigt sich die erschreckende und schmerzliche Entwicklung; die Zahl der Selbsttötungen hat sich vervierfacht.  


Jetzt bekomme ich also Gelegenheit, mich an die Daniela von vor Juli 2020 zu erinnern.
Gelegenheit, mit lieben Menschen eine Weile zusammen sein zu können und alles mögliche gemeinsam zu machen. Mit einander zu reden und zu lachen, zu kochen, zu essen und zu trinken, gemeinsam den Hund auszuführen, und…und…und.  

Gelegenheit, nach der langen Zeit ein anderes Leben wieder auszuprobieren.
Gelegenheit, aus dem ständigen Kreisen um die eigene Achse herauszukommen.

In einer Zeit, in der Viele um mich herum von einem Leben in Gemeinschaften träumen gar nicht so verkehrt.


2 Kommentare:

  1. Lieber Silberstein, ich hoffe du konntest die Zeit trotz aller bedenken genießen. Ich kann es irgendwie nachvollziehen, obwohl ich mich doch schon länger in einer Art soziophoben Zustand befinde. Besuch schön und gut, aber bitte nicht zu lange. Das gilt auch umgekehrt. Bin ich länger als ein paar Stunden außer Haus, beginnt eine Unruhe in mir und zieht es mich wieder magnetisch ins Zuhause zurück. Zusammenleben funktioniert, denke ich, nur noch mit dem Hund ...

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    1. Es waren schon sehr lebendige Tage, lieber Diogenes. Aber auch schöne, nachdenkliche, angenehm kommunikative Zeiten. Ein paar gemeinsame Ausflüge, Spaziergänge mit dem Hund, tiefe Gespräche. Und vieles mehr.
      Dennoch war und ist auch die gemeinsame Stille zu zweit hier im Haus wieder angenehm.

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