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Montag, 8. November 2021

Wohlan denn

Eine liebe Brieffreundin schickte mir diese Karte. Liegt immer im Blickfeld auf meinem Schreibtisch.

Noch immer gefangen in der Sehnsucht, über die ich beim letzten Mal schrieb, begegnete mir ein Gedicht wieder, das mir immer wieder im Leben ein wichtiger Begleiter war. Es tauchte auf in einem der Bücher, die - vor ein paar Wochen begeistert begonnen - in den etwas mühseligen vergangenen Wochen liegen geblieben sind. Aus dem Weg geschoben von anspruchsloserer Kost. Allmählich aber greift mein Entschluss zur Abstinenz. Und schon wird mir Anregendes ins Leben geschenkt! Das Schlusskapitel seines inspirierenden und ermutigenden Buches "Lieblosigkeit macht Krank" überschreibt Gerald Hüther mit der letzten Zeile eines der bekanntesten Gedichte von Hermann Hesse, 'Stufen':
"Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde."

Ich war wie elektrisiert. Dachte sofort an meinen Text über die Sehnsucht nach dem Leben von 'früher'. Dies Leben wird es so und vor allem mit dem gleichen Lebensgefühl nie wieder geben. Die von Hüther zitierte Zeile war für mich die Aufforderung, diese Vorstellung, dies Bild, das ich so sehnend vor mich hin gestellt habe, loszulassen.

Bislang war mir immer eine andere Stelle des Gedichtes im Gedächtnis, vielerorts immer wieder gerne zitiert: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben."
Bloß: Anfänge? Zur Zeit gibt’s eher nur Abbrüche und Begrenzungen. Oder?

Das Gedicht geht nach dieser Zeile aber weiter….

"Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,"

Oh, oh… Was für eine Aufgabe! Loslassen. Weitergehen. Das Jetzt annehmen, so wie es ist, ohne mich in die Vergangenheit zu träumen oder eine Zukunft zu fürchten.
Das hatten wir doch alles schon mal???

Zu meiner und Eurer Ermutigung nun das Gedicht als Ganzes:

Stufen

Foto "Treppe im Wald" Wikimedia Commons
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Von Hesse selbst vorgetragen ist "Stufen" hier zu hören.



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