Mitte März bis 10. April 2020 täglich. Ab 11. April 2020 erscheinen die Beiträge jeden zweiten Tag. Ab Montag, 22. Juni 2020 immer Montag und Donnerstag abends. Ab Montag, 13. Dezember 2021 am Montagabend nach 22 Uhr.


Freitag, 11. Dezember 2020

Obrigkeitshörigkeit

 

 

 

 


In Zeiten wie diesen, in denen jeder kritische und denkende Mensch täglich neu für sich selbst mit der Frage konfrontiert ist, wie er oder sie sich gegenüber Obrigkeitlichem Handeln positioniert, das unter der Argumentation, doch nur das Gute zu wollen, immer mehr und mehr eingreift in bislang für unverletzbar gehaltene Grundrechte, bekommen die Ergebnisse des Milgram-Experiments unerwartete Aktualität.

Vor beinahe 60 Jahren führte der Sozialpsychologe Stanley Milgram an der US-Eliteuniversität Yale einen Versuch durch, der seinerzeit für Entsetzen und Aufsehen gesorgt hatte. Und jedem, der darüber liest, noch immer den kalten Schweiß in den Nacken treiben kann. Freiwillige sollten in einem angeblichen 'Versuch zum Lernverhalten' Stromschläge an Testpersonen austeilen, wenn diese Fragen falsch beantworteten. Die Testpersonen waren in Wirklichkeit Schauspieler, die die Stromschläge nur simulierten.

Angetrieben von einem Versuchsleiter verabreichten die Versuchsteilnehmer tatsächlich immer stärkere Stromschläge, obwohl die Testpersonen um Gnade bettelten und vor Schmerz schrien – bis hin zu tödlichen Stromschlägen von 450 Volt. Das Experiment gilt seitdem als Paradebeispiel dafür, wie Menschen bereit sind, einer Autorität zu gehorchen, Befehle auszuführen und dabei auch Grausamkeiten zu begehen

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Das Fachmagazins 'British Journal of Social Psychology' berichtet im Sommer 2014, dass Wissenschaftler sich noch einmal ausführlich mit jenem Experiment vom Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigt haben. Ihre Fragestellung: sind aus den damaligen Versuchsergebnissen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen worden? Haben die Probanden, die damals die vermeintlich tödlichen Stromschläge verabreichten, wirklich aus blindem Befehlsgehorsam gehandelt? Oder welche anderen Motive könnten ihr Handeln angetrieben haben?

Sie werteten die in den Archiven der Uni Yale gefundenen schriftlichen Rückmeldungen von 659 der Versuchsteilnehmer aus – und waren überrascht, dass viele davon sehr positiv waren. „Man kann sich nur gut fühlen, wenn man Teil eines so wichtigen Experiments war", schrieb ein Teilnehmer. „Ich habe das Gefühl, ein bisschen zur Entwicklung des Menschen und seinem Umgang mit anderen beigetragen zu haben", schrieb ein anderer.

Das könnte darauf schließen lassen, dass die Versuchsteilnehmer erleichtert waren zu erfahren, niemandem Schmerz zugefügt zu haben. Die Studienautoren haben aber eine andere Schlussfolgerung: Die Versuchsteilnehmer hatten das Gefühl, eine Pflicht erfüllt und einem höheren Ziel gedient zu haben.

Milgram hatte ihnen vor den Versuchen eingeimpft, dass sie der Wissenschaft dienen würden.
Die Versuchsteilnehmer, so die Studie, hätten nicht einfach nur dem Versuchsleiter gehorcht, als sie immer stärkere Stromschläge verabreichten – sondern aus eigenem Antrieb gehandelt, weil sie überzeugt waren, das Richtige zu tun.

Der Ko-Autor der Nachstudie, Alex Haslam von der australischen Universität Queensland, argumentiert: die Teilnehmer seien nicht einfach nur „Zombies" gewesen, „die nicht wussten, was sie tun. (…) Wir glauben, dass hinter jedem tyrannischen Verhalten eine Art der Identifikation steht, und

damit eine Entscheidung.“ Milgram habe seine Versuchsteilnehmer davon überzeugt, dass es "akzeptabel ist, im Dienste der Wissenschaft Dinge zu tun, die sonst unvorstellbar sind".

Stephen Reichert von der schottischen Universität St. Andrews erklärte: „Wir argumentieren, dass die Menschen sich dessen bewusst sind, was sie tun, dass sie aber glauben, das Richtige zu tun. Das kommt von einer Identifizierung mit der Sache - und der Akzeptanz, dass die Autorität ein legitimier Vertreter dieser Sache ist."

Diese neuen Schlussfolgerungen machen beinahe noch nachdenklicher als diejenigen von Milgram.
Sicher in diesen Zeiten.

Inspirationsquelle: Newsbrief von Steffen Lohrer vom 6. Dezember 2020, darin zitierend einen Bericht aus dem Ärzteblatt.

Montag, 7. Dezember 2020

Verquer

Mein Vater hat sich selbst immer als 'Querdenker' bezeichnet, und er hat mich durch sein So-Sein gelehrt, Dinge zu hinterfragen und auch durchzufragen. Ein X für ein U vormachen, das brauchte man bei ihm gar nicht zu versuchen.

Inzwischen ist Querdenken enorm in Verruf geraten. Menschen, die sich dazu bekennen, dass sie nicht ohne weiteres bereit sind, Xe als Us anzusehen, kriegen in der veröffentlichten Diskussion unverzüglich einen Aluhut verpasst. Lediglich Geradeausdenken scheint noch angesagt und zulässig.

Aber wie war das doch noch? "Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom".
Di
es war mal ein beliebter Spruch in grün-alternativen Kreisen, der manches Auto in Form eines Aufklebers zierte. Oder auch populär war als Visitenkarte unter Profilen in www-Diskussionsforen.

Dieser Tage habe ich eine interessante Zuschrift bekommen, die sich klug mit genau diesem Thema befasst. Sie ist der heutige Gastbeitrag in meinem Blog:

Am Anfang war der Gedanke

- das ging mir durch den Kopf als ich heute Morgen über die verschiedenen Verbote von "Querdenker" las. Natürlich ist wegen den Anführungszeichen eine Gruppierung gemeint und gewisse damit verbundene Ereignisse. Nur wie wird das vom Kopf her wahrgenommen? Und wenn später jemand das liest, ist er fähig, die Zusammenhänge zu erfassen?

Es ist sicher mühselig drüber zu diskutieren, ob der Gedanke zuerst da war oder das Wort, so wie es die Bibel ausdrückt. Momentan in deutschen Landen scheint es wohl der Gedanke zu sein, dem der Ursprung zugesprochen wird. Denn "Querdenker" scheinen gefährlich zu sein, und es gibt mehrere "Querdenker"-Verbote als Ergebnis von Ausschreitungen bei Demonstrationen.

Buchtitel gefunden bei bol.com

Querdenken an sich, folgt man dem Duden, beinhaltet letztendlich unkonventionell, originell denken. In der Wirtschaft waren diese Menschen gefragt und gesucht wegen ihrer besonderen Qualitäten:

"(…) sind Querdenker Menschen, die einen anderen Denkansatz verfolgen, der von klassischen, konventionellen Wegen abweicht. Sie gehen nicht den bekannten, geraden Weg, sondern denken um die Ecke und gehen unkonventionell vor.

Querdenker betreten gedankliche Pfade, die völliges Neuland sind und sehen dabei Probleme oder Fragestellungen aus einer gänzlich neuen Perspektive." So der Beitrag der Karrierebibel.

 "War es früher der fleißige Einserkandidat, stellen sich jetzt viele geniale Entwickler und kreative Neudenker vor. Ich habe bei Indeed „Querdenker“ eingegeben: Über 600 Ergebnisse in Stelleninseraten. Im Vergleich dazu wird nur rund 200 mal ein überdurchschnittlicher oder sehr guter Studienabschluss gefordert." schreibt Svenja Hofert in ihrem Karriereblog

Illustration aus dem Karriereblog von Svenja Hofert
Heute sind sie in der öffentlichen Diskussion mit einem Makel behaftet; gelten als unliebsam oder gar gefährlich.

Nur, was wäre die Welt ohne die Menschen, die breit getrampelte Gedankenwege verlassen haben und zu neuen Erkenntnissen gekommen sind? Was wäre mit der Forschung, Medizin, Wissenschaft, Musik, Literatur, Kunst und Kultur?

Ohne diese Menschen gäb's einen Einheitsbrei (auch wenn das für manch einen sogenannten Lebensmittelhersteller wünschenswert wäre) auf allen Ebenen verbunden mit Stillstand; letztendlich eine Art Gleichschaltung.
Eine gewisse Gleichschaltung erfolgt jetzt schon, weil alle in einen Topf geworfen werden : die Menschen, die sich ernsthafte Gedanken machen und die Menschen, die aktionistisch Angst und Gewalt verbreiten und Veranstaltungen für ihre Zwecke instrumentalisieren.
Klarsichtige Differenzierung? Fehlanzeige.

Und der deutsche Michel aus dem Land der Denker und Dichter, denkt …  ob da manche nicht mehr ganz dicht sind.

Donnerstag, 3. Dezember 2020

Von Zwängen befreit

 

 

 

Vor ein paar Tagen las ich hier auf der Website einer Zeitung die Überschrift: "Schlampige Kleidung, Haare und Bartwuchs – Ich hab sogar einen Kollegen daraufhin angesprochen". Corona-Mode.
In dem Artikel im Algemeen Dagblad wurde Kritik daran geübt, dass die Menschen sich um so weniger Mühe geben mit ihrer Kleidung, je länger die Homeoffice-Phase dauert.

 "Die Niederländer bemühen sich immer weniger, pico bello auszusehen" beschwerte sich der Interviewte. Kein Wunder, dass er darüber klagt – er ist der Inhaber der Firma Suitsupply, die Anzüge herstellt. Er sieht seinen Umsatz einbrechen.

"Keine chiquer Sakko oder gebügeltes Oberhemd, sondern ein bequemer Troyer oder verkrumpeltes Shirt. Und nicht nur unsere Kleidung verschlampt, man sieht es auch am unkontrollierten Bartwuchs und schlampigen Frisuren." seufzt er.

Auf der Website von RTL  wird auch die weibliche Seite der häuslichen Bequem-Mode beleuchtet. "Bügeln? Bei Joyce zuhause weiß man schon fast nicht mehr, was das ist. Jetzt, da ihr Freund zuhause arbeitet, brauchen keine Oberhemden mehr gebügelt zu werden. Herrlich!

Und der Hausanzug ist inzwischen ihr Lieblingsoutfit, wenn sie das Haus nicht zu verlassen braucht.

"Klar ziehe ich eine normale Hose an, wenn ich die Kinder zur Schule bringe. Aber ich kann mich zum Beispiel nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal Make-up benutzt habe." Erzählt besagte Joyce weiter.  

Auf einen Aufruf von RTL via facebook zum Thema "Corona-Mode" "reagierten eine Menge Leute auf die gleiche Weise wie Joyce. So lange und so häufig wie möglich laufen sie in Trainingsanzug, Pyjama oder Bademantel herum. Wenn man will, kann man das schlampig nennen. Die Menschen selbst aber finden es prima."

Und auch hier darf die Klage eines (in diesem Fall Damen-)Modegeschäfts nicht fehlen. 


All die schöne, chique Kleidung für offizielle oder festliche Anlässe bleibt im Laden hängen. Pullover, Hosen, klassische Hosen mit Stretch im Gewebe, solche Sachen sind diesen Herbst im Schwange.

"Bequem ist Norm" ergänzt die Ladeneigentümerin "Schade. Aber ich kanns schon gut verstehen. Im Laden trage ich ordentliche, feine Kleidung. Zuhause tausche ich mein Kostüm auch schnell gegen eine Jeans."

Endlich! ruft es in mir laut angesichts dieser Schilderungen.
Der Aufregung kann ich mich ganz und gar nicht anschließen. Endlich kommen die Leute dahinter, dass es für den Menschen in seiner Gesamtheit nicht gut ist, sich in unbequeme Kleidung zu zwängen, nur weil die als "chic" bzw. "gepflegt" etikettiert ist und von den Arbeitgebern und Anstandsgurus unisono zur Norm erhoben wird.

Winerkollektion 2020
von Gudrun Sjöden

Endlich merken die Menschen, wie schön es ist und wie gut es tut, wenn der Körper sich in den Kleidungsstücken frei bewegen kann, nichts zwickt, zwackt, einengt. Wie gut es tut, wenn man frei atmen kann, ohne kneifenden Rock- oder Hosenbund oder über der Brust fast spannende Bluse oder Oberhemd. Wie schön es ist, in bequemen Schuhen zu stecken, in denen die Zehen freies Spiel haben, die Füße atmen können, und in denen man schwingend und federnd natürlich gehen kann. Auch kalte Füße gehören mehr oder weniger der Vergangenheit an mit solcher Fußbekleidung. Statt Nylons oder dünnen Baumwollstrumpfhosen mit pumpsartigem Schuhwerk baumwollene oder wollene Socken mit Bequemschuhen. Herrlich!
Winterkollektion 2020 von hessnatur

Endlich dürfen auch berufstätige Menschen bereits das genießen, das alle Pensionierten sofort tun, wenn sie nicht mehr an irgendwelche Dienstkleidungen gebunden sind: sich so kleiden, wie es ihrem Körper gut tut. Und sich fortan in all ihren Kleidungsstücken rundum pudelwohl fühlen.

Hoffentlich bleibt der nun massenhaft an die Seite gekickte Kleidungs-Zwang dauerhaft auf der Strecke! Den an einem Schreibtisch arbeitenden Menschen wird das auf jeden Fall gut tun. Der Produktivität übrigens wahrscheinlich auch. Denn Menschen, die sich bei der Arbeit wohlfühlen, sind auch produktiver.

Der im Algemeen Dagblad und auf RTL zitierte Anzughersteller führt noch an, dass ihm bezüglich der eigenen Landesgenossen während internationaler Online-Konferenzen oft die Haare zu Berge stünden. Seiner Aussage nach säßen vor allem in Frankreich, Deutschland und Belgien die Teilnehmer eines solchen Video-Gespräches piekfein in der Runde. Und die eigenen Landsleute im Bequemlook.

Das ist auch nur Show, habe ich inzwischen von Leuten aus Deutschland gehört, die es wissen müssen. Weil selbst schon seit Monaten im Homeoffice.

Hier gehts zu dem Artikel auf der RTL-Website
Dieser Chic ist lediglich obenherum. Genau so weit, wie die Kamera reicht. Der Rest vom Körper, unterm Schreibtisch verborgen, sitzt auch in Jogginghose, Pyjamahose, Stretchjeans, Leggings, an den Füßen dicke Wollsocken oder gemütliche Schlappen, eventueel Sneaker. Auch völlig unbekleidete Unterkörper sollen schon vorgekommen sein.

Es lebe die Freiheit des Homeoffice.

 

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