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Freitag, 11. Dezember 2020

Obrigkeitshörigkeit

 

 

 

 


In Zeiten wie diesen, in denen jeder kritische und denkende Mensch täglich neu für sich selbst mit der Frage konfrontiert ist, wie er oder sie sich gegenüber Obrigkeitlichem Handeln positioniert, das unter der Argumentation, doch nur das Gute zu wollen, immer mehr und mehr eingreift in bislang für unverletzbar gehaltene Grundrechte, bekommen die Ergebnisse des Milgram-Experiments unerwartete Aktualität.

Vor beinahe 60 Jahren führte der Sozialpsychologe Stanley Milgram an der US-Eliteuniversität Yale einen Versuch durch, der seinerzeit für Entsetzen und Aufsehen gesorgt hatte. Und jedem, der darüber liest, noch immer den kalten Schweiß in den Nacken treiben kann. Freiwillige sollten in einem angeblichen 'Versuch zum Lernverhalten' Stromschläge an Testpersonen austeilen, wenn diese Fragen falsch beantworteten. Die Testpersonen waren in Wirklichkeit Schauspieler, die die Stromschläge nur simulierten.

Angetrieben von einem Versuchsleiter verabreichten die Versuchsteilnehmer tatsächlich immer stärkere Stromschläge, obwohl die Testpersonen um Gnade bettelten und vor Schmerz schrien – bis hin zu tödlichen Stromschlägen von 450 Volt. Das Experiment gilt seitdem als Paradebeispiel dafür, wie Menschen bereit sind, einer Autorität zu gehorchen, Befehle auszuführen und dabei auch Grausamkeiten zu begehen

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Das Fachmagazins 'British Journal of Social Psychology' berichtet im Sommer 2014, dass Wissenschaftler sich noch einmal ausführlich mit jenem Experiment vom Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigt haben. Ihre Fragestellung: sind aus den damaligen Versuchsergebnissen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen worden? Haben die Probanden, die damals die vermeintlich tödlichen Stromschläge verabreichten, wirklich aus blindem Befehlsgehorsam gehandelt? Oder welche anderen Motive könnten ihr Handeln angetrieben haben?

Sie werteten die in den Archiven der Uni Yale gefundenen schriftlichen Rückmeldungen von 659 der Versuchsteilnehmer aus – und waren überrascht, dass viele davon sehr positiv waren. „Man kann sich nur gut fühlen, wenn man Teil eines so wichtigen Experiments war", schrieb ein Teilnehmer. „Ich habe das Gefühl, ein bisschen zur Entwicklung des Menschen und seinem Umgang mit anderen beigetragen zu haben", schrieb ein anderer.

Das könnte darauf schließen lassen, dass die Versuchsteilnehmer erleichtert waren zu erfahren, niemandem Schmerz zugefügt zu haben. Die Studienautoren haben aber eine andere Schlussfolgerung: Die Versuchsteilnehmer hatten das Gefühl, eine Pflicht erfüllt und einem höheren Ziel gedient zu haben.

Milgram hatte ihnen vor den Versuchen eingeimpft, dass sie der Wissenschaft dienen würden.
Die Versuchsteilnehmer, so die Studie, hätten nicht einfach nur dem Versuchsleiter gehorcht, als sie immer stärkere Stromschläge verabreichten – sondern aus eigenem Antrieb gehandelt, weil sie überzeugt waren, das Richtige zu tun.

Der Ko-Autor der Nachstudie, Alex Haslam von der australischen Universität Queensland, argumentiert: die Teilnehmer seien nicht einfach nur „Zombies" gewesen, „die nicht wussten, was sie tun. (…) Wir glauben, dass hinter jedem tyrannischen Verhalten eine Art der Identifikation steht, und

damit eine Entscheidung.“ Milgram habe seine Versuchsteilnehmer davon überzeugt, dass es "akzeptabel ist, im Dienste der Wissenschaft Dinge zu tun, die sonst unvorstellbar sind".

Stephen Reichert von der schottischen Universität St. Andrews erklärte: „Wir argumentieren, dass die Menschen sich dessen bewusst sind, was sie tun, dass sie aber glauben, das Richtige zu tun. Das kommt von einer Identifizierung mit der Sache - und der Akzeptanz, dass die Autorität ein legitimier Vertreter dieser Sache ist."

Diese neuen Schlussfolgerungen machen beinahe noch nachdenklicher als diejenigen von Milgram.
Sicher in diesen Zeiten.

Inspirationsquelle: Newsbrief von Steffen Lohrer vom 6. Dezember 2020, darin zitierend einen Bericht aus dem Ärzteblatt.

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