Mitte März bis 10. April 2020 täglich. Ab 11. April 2020 erscheinen die Beiträge jeden zweiten Tag. Ab Montag, 22. Juni 2020 immer Montag und Donnerstag abends. Ab Montag, 13. Dezember 2021 am Montagabend nach 22 Uhr.


Donnerstag, 7. Oktober 2021

NormalZeit

Gratis Clipart von https://de.cleanpng.com/
Seit etwas mehr als zwei Wochen fällt mir auf, dass ich morgens, nachdem ich den Wecker ausgestellt habe, dem Gefühl nachgebe: 'noch einen Moment liegenbleiben'. Meist werde ich dann etwa 45 Minuten bis eine Stunde später wach. Gleichzeitig fiel mir auf, dass meine Essenszeiten sich um eine halbe Stunde bis eine Stunde nach hinten verschieben, d.h. ich bekomme schlicht später Appetit. Und wenn ich genau schaue, dann war dies der Anfang der aktuellen Rhythmusverschiebung. Ich hatte immer später Appetit aufs Mittagsbrot, und auch der Hunger fürs Abendessen stellte sich auf keinen Fall vor acht Uhr ein, meist noch später. Das Schlafen will dann auch nicht so. Und es will abends länger lesen in mir. Und prompt dann morgens länger schlafen 😉

Eine Freundin machte mich im Gespräch drauf aufmerksam, dass sich dies etwa mit der Tag- und Nachtgleiche eingestellt habe. Immer deutlicher werden seitdem die Tageslichtstunden kürzer, verglichen mit den  Dunkelheitsstunden pro Tag. Meine im Frühjahr antrainierterte Rhythmusverschiebung zur persönlichen Anpassung an die Sommerzeit schiebt sich natürlicherweise zurück in den Rhythmus der Normalzeit, also der biologischen Zeit, der an unsere Sonnenstands- und Lichtverhältnisse angepassten Zeitangabe auf der Uhr.

Es ist erstaunlich. Nun werden wir seit 41 Jahren in die alljährliche Zwangsverschiebung des Lebensrhythmus geschoben, aber es gibt immer wieder mal neue Wahrnehmungen in mir darüber, was es mit meinem Körper und meiner Seele macht.

Diesen Herbst also fordert mein Körper vehement die Anpassung an die tatsächlichen Tageslicht-verhältnisse zurück. Gerade zu Beginn der Sommerzeitregelung, in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten ganz sicher, hatte ich den ganzen Sommer über massive Probleme mit der künstlichen Zeit. Meine innere Uhr ließ sich nicht foppen, und da ich studierte bzw. freiberuflich tätig war, gab es keinen harten äußeren Taktgeber, der mich zur Anpassung gegen meine eigene innere Uhr zwang. So kam ich die ganzen Sommermonate oft zu spät oder stand vor geschlossenen Ladentüren, weil ich meiner inneren Uhr vertraut hatte. Damals galt ja noch das alte Ladenschlussgesetz, und somit gingen die Rollgitter abends um halb sieben bzw. samstags um 13 oder 14 Uhr nach unten. Mehr als einmal musste ich beim Abendessen und Frühstück enorm improvisieren. Mein Einkommen war ja noch mehr oder weniger studentisch, und so war auch meine Vorratshaltung begrenzt – große Vorräte anlegen hätte zu hohe Ausgaben auf einmal bedeutet.

Historische Ansichtskarte zur Einführung der Sommerzeit 2016       

In den ersten 20 Jahren nach der modernen Einführung der künstlichen Zeit im Sommer waren die Perioden im Jahr wenigstens noch gleichverteilt, man durfte genauso lange im natürlichen Rhythmus leben, wie man gezwungen war, im künstlichen Rhythmus zu leben: Normalzeit war vom letzten Sonntag im September bis zum letzten Sonntag im März – 6 Monate. Und der künstliche Rhythmus im Sommer dauerte vom letzten Sonntag im März bis zum letzten Sonntag im September, 6 Monate. D.h. die Umstellungen fanden plusminus um die beiden Tag- und Nachtgleichen statt. Damit war qua Tageslicht-Erleben die Umstellung zwar erlebbar, aber nicht furchtbar krass.

Heutzutage (genau genommen seit 1996) werden wir mit einem Übergewicht des künstlichen Rhythmus belastet. Er ist uns auferlegt vom letzten Sonntag im März bis zum letzten Sonntag im Oktober – 7 Monate. Es wird uns nur 5 Monate lang zugestanden, im natürlichen Tageslicht-Rhythmus zu leben. Die Verschiebung um einen Monat nach hinten wurde laut Wikipedia beschlossen im Rahmen der Anpassung an einen europäischen Gleichschritt.
Es wird nun erst einen Monat nach der Herbst-Tag- und Nachtgleiche umgestellt, wodurch natürlich das subjektive Erleben: "es wird so früh dunkel" - verglichen mit dem Tag vorher - viel krasser ausfällt. Im Lichtgefühl der Tageslänge macht es einen großen Unterschied, ob die Verschiebung des Sonnenuntergangs von 19:20 Uhr auf 18:20 Uhr stattfindet (Zeiten Zuidbroek für den 26. September 2021) oder ob "gestern" (dies Jahr der 30. Oktober) die Sonne um 18:04 Uhr untergeht und "heute" (dies Jahr der 31. Oktober) um 17:02 Uhr. Da fühlt sich der Tag gleich sehr viel kürzer an.

Beim Sonnenaufgang (7:27 h MESZ am 26.09. gegenüber 6:27 h MEZ und 8:29 h 30.10. / 7:31 h am 31.10.) fühlt sich das für viele Menschen weniger krass an, da sie sowieso ihres Arbeitsrhythmus wegen sehr früh aufstehen müssen und gelernt haben, sich jeden Tag aufs Neue über das natürliche Gefühl hinweg sich zu zwingen, in aller Herrgottsfrühe ihren Schlaf zu unterbrechen. Allenfalls wird das eine Stunde früher Hellwerden entspannend erfahren, ohne dass es groß Einfluss hätte auf die Gesamtwahrnehmung der Tageslichtlänge. Wie in so vielen Fällen gräbt sich das Negative – gefühlt wird der Tag wird am Ende plötzlich beschnitten – stärker in die Emotion ein als das Positive – das Tageslicht ist eine Stunde früher da. Von daher kann man sich auch erklären, dass viele Leute aus dem Erleben der sogenannt 'langen Sommerabende' heraus für eine dauerhafte Einführung der künstlichen Zeit optieren würden. Ohne Nachzudenken oder gar Hinzufühlen, was das im Tiefsten für ihren Körper und ihre Psyche an Belastung bedeutet.Und dass es bedeuten würde, dass es im Winter erst gegen 9:30 h hell würde.

Gratis Clipart https://de.vecteezy.com/gratis-vektor/party

 

Bei mir allerdings, die ich keinem aufgezwungenen Arbeitswelt-Rhythmus mehr unterliege, kann sich
das natürliche Empfinden den ihm zukommenden Raum nehmen.

Und so erfahre ich dies Jahr also meine persönliche Korrektur der künstlichen Zeit hin zur natürlichen Zeit von selbst in einer Periode, in der das Geist-Körper-Seele-System sie am leichtesten verarbeiten kann: um die herbstliche Tag- und Nachtgleiche herum.

Es hat auch Vorteile, ein älteres Semester zu sein.

Montag, 4. Oktober 2021

Zeit

Heute beim Spaziergang stand mitten auf dem Dorfplatz mutterseelenallein ein anthrazitfarbenes, nicht ganz kleines Auto mit weißem Nummernschild. Jedes weiße Nummernschild im Dorf macht mich neugierig, und bei näherem Hinsehen entpuppte sich der Wagen als aus dem Westerwaldkreis kommend. WW-RK begann das Kennzeichen. 'Ein katholischer Pfarrer oder Dekan aus dem Westerwald' kam es mir in den Sinn. Ja, der katholische Westerwald…

Ein Pfarrbüro, irgendwo. Natürlich hatten wir damals andere Bildschirme.
Unvermutet wurde mir ganz traurig zumute, saßen die Tränchen Oberkante Unterlid. Mit heißer Wehmut dachte ich zurück an meine Zeit als Sekretärin im katholischen Pfarrbüro. Da war der Westerwald nicht ganz bedeutungslos; mein Pfarrerchef – damals zu Beginn noch keine 40, heute auch schon fast 71 Jahre alt – war gebürtig aus dem Westerwald. Und eine unserer eifrigsten, ehrenamtlichen Damen, die sich um die Altartücher und die Messgewänder kümmerte, auch.

Ganz plötzlich sehne ich mich zurück nach dieser Zeit Ende der 80er Jahre. Gerade die Mitte 30 überschritten hatte ich, war voller Lebenskraft, und von der ganzen Negativität, die uns alle noch heimsuchen sollte, war noch kaum etwas zu spüren. Zwar hatte die Ära Kohl schon begonnen, aber die Euphorie nach dem Anschluss der DDR an die BRD war noch ungebrochen, und kollektiv wurde von einer nunmehr friedlichen Welt geträumt.

Drei Mal in der Woche saß ich nachmittags ein paar Stunden im Pfarrbüro, nahm Telefongespräche an, rechnete Kollekten und Kosten mit dem Rentamt ab, machte Plakate für Orgelkonzerte, nahm Bestellungen für hl. Messen an ("wir beten in diesem Gottesdienst besonders für…."), hielt manches nette Schwätzchen oder tiefgründige Gespräch mit meinem Pfarrer-Chef, suchte Vertretungen für den Organisten oder einen Pfarrer, Diakon oder Pastoralreferenten, der eine Beerdigung übernehmen konnte (der Pfarrer hatte nur eine halbe Stelle), hatte ein offenes Ohr für die Menschen, die zu uns kamen und eine oder zwei Mark in der "Bettlerkasse"  für "Durchwanderer" (die wir ansonsten

Eigentlich hätte ich ihn schon daran erkennen müssen, den Bischof

durchweg weiterverwiesen an die Caritas oder andere Instanzen des nicht ganz schlechten Hilfsnetzwerks) und erkannte den Bischof nicht, als er eines Nachmittags im schwarzen Anzug mit seiner unvermeidlichen, klassischen Baskenmütze in der Hand kurz den Pfarrer sprechen wollte, ehe er gegenüber im Rundfunk zur Aufnahme einer Morgenfeier o.ä. ging. Pfarrer aber war gerade in der Dienstagnachmittagmesse und Bischof sagte: sagen Sie ihm einen Gruß, ich komme dann ein ander Mal.

Obwohl mir manches in meinem damaligen Leben, offiziell studierte ich im Zweitstudium und dies war nur eine 25%-Stelle, gehörig auf den Senkel ging, sage ich heute im Rückblick: damals war ich glücklich!

Ein tiefes Seufzen macht sich Luft, während ich mir am Ufer des Hafens noch ein paar Minuten die Zeit vertreibe in der Hoffnung, dass der Eigentümer des PKW zurückkommen möge. Wer weiß… bei dem Nummernschild…

Er tut mir nicht den Gefallen. Irgendwann muss ich weiterziehen auf meinem Spaziergang durchs Dorf.

Mein anderer kirchlicher Arbeitsplatz 2005 mitten im Elend
der Umstrukturierung, verklärt von der Patina der Erinnerung

Die Wehmut bleibt mir noch eine Weile erhalten; ich sinniere darüber, wie es mit mir danach weiterging. Wie eine andere, auch anderskonfessionelle, kirchliche Arbeitsstelle ein paar Jahre später erst halbtags, dann voll dazukam, wie enorm glücklich ich auch in dieser Arbeitsstelle war und eine Zeit lang 125% arbeitete, bis ich, vom Chef der Ganztagsstelle gebeten, das Pfarrbüro aufgeben musste. Wie dies Glücksgefühl dann durch Umstrukturierung zerstört wurde und ich schmerzlich Zeugin werden musste, dass der Primat der Ökonomie Einzug hielt auch ins kirchliche Arbeiten. Aus die Maus mit dem menschenfreundlichen "Tendenzbetrieb" und seinem angenehmen Arbeitsklima.

Auch schon wieder so lange her…
Gelebtes Leben.
Lebenszeit.

Was ist seit dem schon wieder alles passiert...

Mit all diesen Erinnerungen geht – von heute aus gesehen, in dieser speziellen historischen Situation, in der wir nun sind – eine enorme Wehmut einher. Ich komme mir vor wie meine eigene Großmutter, als ich mich bei dem Gedanken ertappe, dass die Entwicklungen seitdem wirklich keinen Anlass zum Jubeln geben. Dieses 'ja, damals'-Gefühl...

Der aktuelle Zustand unserer Gesellschaft und unserer politischen Systeme, die Lebensregeln, denen wir seitens der Politik nun unterworfen sind, machen es einer schwer, ein Wohlfühlen zu entwickeln.

Als Foto eine Erinnerung, aber der Ort gehört zu meiner Gegenwart:
die alte Brücke von 1916 übers Muntendammer Diep in Zuidbroek


 

 

Etwas in mir weiß, dass es dennoch unabdingbar ist, positive Gefühle in sich zu pflegen, hochzuhalten. So schwer es auch ist. Nach Herzkohärenz zu streben, wie manche es nennen. Ich kann auch sagen: liebevoll mit mir umgehen. Dankbar sein.
Der Sonnenschein, der uns heute bei unverschleiert blauem Himmel geschenkt wird, an dem höchstens ab und zu ein paar Ansichtskarten-Wölkchen entlangziehen, hilft dabei.

Und so verabschiede ich mich von der Wehmut und schaue mit anderen Augen nach meinen Erinnerungen:
Über welch einen reichen Schatz an glücklichen Zeiten und Erinnerungen verfüge ich doch, wenn ich zurückschaue!

 

Viel gelesen