Mitte März bis 10. April 2020 täglich. Ab 11. April 2020 erscheinen die Beiträge jeden zweiten Tag. Ab Montag, 22. Juni 2020 immer Montag und Donnerstag abends. Ab Montag, 13. Dezember 2021 am Montagabend nach 22 Uhr.


Montag, 8. November 2021

Wohlan denn

Eine liebe Brieffreundin schickte mir diese Karte. Liegt immer im Blickfeld auf meinem Schreibtisch.

Noch immer gefangen in der Sehnsucht, über die ich beim letzten Mal schrieb, begegnete mir ein Gedicht wieder, das mir immer wieder im Leben ein wichtiger Begleiter war. Es tauchte auf in einem der Bücher, die - vor ein paar Wochen begeistert begonnen - in den etwas mühseligen vergangenen Wochen liegen geblieben sind. Aus dem Weg geschoben von anspruchsloserer Kost. Allmählich aber greift mein Entschluss zur Abstinenz. Und schon wird mir Anregendes ins Leben geschenkt! Das Schlusskapitel seines inspirierenden und ermutigenden Buches "Lieblosigkeit macht Krank" überschreibt Gerald Hüther mit der letzten Zeile eines der bekanntesten Gedichte von Hermann Hesse, 'Stufen':
"Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde."

Ich war wie elektrisiert. Dachte sofort an meinen Text über die Sehnsucht nach dem Leben von 'früher'. Dies Leben wird es so und vor allem mit dem gleichen Lebensgefühl nie wieder geben. Die von Hüther zitierte Zeile war für mich die Aufforderung, diese Vorstellung, dies Bild, das ich so sehnend vor mich hin gestellt habe, loszulassen.

Bislang war mir immer eine andere Stelle des Gedichtes im Gedächtnis, vielerorts immer wieder gerne zitiert: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben."
Bloß: Anfänge? Zur Zeit gibt’s eher nur Abbrüche und Begrenzungen. Oder?

Das Gedicht geht nach dieser Zeile aber weiter….

"Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,"

Oh, oh… Was für eine Aufgabe! Loslassen. Weitergehen. Das Jetzt annehmen, so wie es ist, ohne mich in die Vergangenheit zu träumen oder eine Zukunft zu fürchten.
Das hatten wir doch alles schon mal???

Zu meiner und Eurer Ermutigung nun das Gedicht als Ganzes:

Stufen

Foto "Treppe im Wald" Wikimedia Commons
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Von Hesse selbst vorgetragen ist "Stufen" hier zu hören.



Donnerstag, 4. November 2021

Sehnsucht

Es gibt Tage, da erfüllt mich eine unglaubliche Sehnsucht nach normalem Leben. Eine unglaubliche Sehnsucht danach, einfach drauflos leben zu können. Sehnsucht danach, spontan die Dinge tun zu können, wie sie mir in den Sinn kommen oder sich andienen.

Wisst Ihr noch, wie das war? Erinnert Ihr Euch noch?

Man wachte morgens auf, lebte sein übliches Morgenritual. Mit ausgedehntem Frühstück, kleinem Frühstück, gar keinem Frühstück im Bauch gings zur Arbeit, zur Schule, zu …irgendwas, was man sich vorgenommen hatte. Man verließ das Haus einfach so und tat, was anstand. Völlig frei von jeglicher Furcht vor irgendeiner draußen lauernden Gesundheits-gefahr. Völlig ohne jedwede Extra-Vorsichtsmaßnahmen und Extra-Gepäck wie Masken, Impfpässe, Testergebnisse, Desinfektionsmittel. Einfach nur Tasche oder Rucksack und Schlüssel nehmen und los.

Frei von allesbeherrschender Angst vor bösen Viren, die irgendwo im Atem eines Mitmenschen heimtückisch darauf warten, andere Menschen zu überfallen, lief man durch seine Stadt, sein Dorf. Begenete anderen Menschen, ohne ihnen auszuweichen. Benutzte öffentliche Verkehrsmittel, drückte
sich durch volle oder übervolle Kaufhäuser, Märkte, Weihnachtsmärkte, Sonderausstellungen in Museen, Theaterfoyers, wartete in Klo-Schlangen, saß oder stand dichtgedrängt in Konzerten, tanzte ab (und schwitzte fröhlich drauflos) in der vollen Disco.

Völlig frei von jeder Angst vor den bösen Keimen, die die
Mitmenschen auspusten könnten, saß man bei einander. Umarmte sich. Küsste sich auf die Wange, oder unter Liebenden ganz arglos und genießend sinnlich. Man saß mit den verschiedensten Menschen in häuslichen Situationen zusammen, feierte Feste, besuchte einander, ging essen, hockte einen Abend lang in übervollen Kneipen, war unter Menschen, unter Menschen, unter Menschen. Selbstverständlich. Arglos. Glücklich. Natürlich. Ohne nachzudenken. Manchmal verärgert über die Fülle, man hätte gerne etwas mehr Raum gehabt. Trotzdem irgendwo entspannt. Menschen gehörten zu Menschen.

Und das alles war absolut frei von allgegenwärtiger Angst, sich mit irgendwas anzustecken. 

Man verliebte sich und kam sich völlig happy und frei näher und näher, küsste sich, hielt Händchen und irgendwann mehr, und hatte allenfalls Angst, dass die Verliebung einseitig sein könne. Andere genehmigten sich One-Night-Stands. Da war die einzig wahrgenommene Ansteckungsgefahr diejenige bezüglich Geschlechtskrankheiten.

Man ging auf Reisen. Fahrkarte, Flugticket buchen und los. Einfach so.
Man bezahlte bar. Einfach so.

Fasste Lebensmittel im Supermarkt an, prüfte die Qualität von Obst und Gemüse, legte gegebenenfalls etwas wieder zurück. Ohne sich allzusehr einen Kopf zu machen, wer das vor einem schon alles in der Hand hatte, man würde es doch waschen oder schälen, ehe man es isst. Ohne vorher und hinterher die Hände mit Sterillium einzureiben. Gelegentlich aß man auch mal einen Apfel oder eine Birne, nachdem man die Frucht einfach abgerieben hatte, nicht erst nachdem sie ausführlich gewaschen waren. Oder naschte auch mal einzelne Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren nach dem Kauf gleich aus dem Schälchen. Frei von Angst, sich mit irgendwas anzustecken. Allenfalls hatte man Bedenken wegen Pflanzenschutzmitteln.

Nach dem Einkauf räumte man die Dinge an ihren Platz. Kochte sich danach einen Kaffee oder Tee, schmierte sich ein Brot, klaubte einen Keks aus der Dose oder ein Knäckebrot aus der Schachtel. Genehmigte sich ein Stück Schokolade aus der gerade gekauften Packung. Ohne sich grundsätzlich nach jedem Einkauf eindringlich erst noch daran zu erinnern: hallo! Du kommst vom Einkaufen! erstmal Hände waschen!!! Tat man meistens schon, aber mehr aus Gewohnheit denn aus Angst vor irgendeiner Ansteckung.

Klar, in der Erkältungszeit war man etwas vorsichtiger, wusch die Hände häufiger und sah zu, dass einen niemand anhustete. Aber andererseits, Erkältungen konnten passieren. Waren unangenehm, aber kein Drama.

Man lebte drauflos. Und es ging (meistens) gut. Wofür hatte mein sein gut trainiertes Immunsystem? Über das man nicht einmal nachdachte. Auf das man sich vertrauensvoll verließ, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Man tat überhaupt alles einfach so. Wollen wir…. ins Kino, ins Theater, ins Konzert, ins Museum, ins Schwimmbad, zum Sport, was Essen,… gehen? Prima, wann? Und dann gings los. Ab in irgendein öffentliches Verkehrsmittel, aufs Fahrrad, ins Auto. Und zum Treffpunkt.

Keine Überlegung: was muss ich jetzt nachweisen, um dorthin zu können? Darf jemand "ohne" dort noch in, oder nicht? Habe ich genug Masken dabei? Sind es auch die richtigen Masken? Muss ich da eine FFP2 oder kann eine normale medizinische Maske? Das Fläschchen Desinfektionsmittel nicht vergessen! Den Impf- oder Testnachweis parat haben. Und immer die Angst im Gepäck, die Drohung: das böse Virus lauert überall.

So war das.
Nach dieser Unbeschwertheit sehne ich mich. Manchmal so sehr, dass ich heulen könnte.
Weg. Aus und vorbei. Ob sie je wieder kommt?

Offizielle Grafik mit ab übermorgen geltenden Regeln     

Hier im Land geht alles gerade erst einmal den umgekehrten Weg. Ab übermorgen haben wir die
Maskenpflicht zurück beim Einkaufen und überhaupt in allen Innenräumen, in denen mehrere Mensche bei einander sind. Genesen-Geimpft-Getestet wird an viel mehr Stellen eingeführt, als es bislang galt; außer in Restaurants, Theatern, Konzertsälen und bei Großveranstaltungen nun auch in Museen, Schwimmbädern, Sportschulen, für Zuschauer von Sportveranstaltungen und auf Jahrmärkten.

Die Angstkeule wird wieder heftig geschwungen und mit warnender Stimme werden täglich mehrfach die aktuellen Zahlen genannt. Vor allem wird angstvoll und angstmachend nach den Aufnahmen ins Krankenhaus und den belegten Intensivbetten geschaut. Bei 17 Millionen Einwohnern gibt es rechnerisch landesweit nur 1150 Intensivbetten und aufgrund vieler Krankmeldungen im Personal zur Zeit nur 950. Irgendwer hat ausgerechnet, dass in den Niederlanden rechnerisch 9,6 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner kommen. In Deutschland sind das 46 pro 100.000. Und in Italien immerhin noch 11. Die 8 großen Universitätskliniken haben schon verlautbart, dass Aufstocken eine Option ist. Nicht zu schaffen. Weder personell noch finanziell.
Also wird die Angstkeule geschwungen. Und wie!

Unbeschwertheit? Nächster Witz!

Und dabei ist Freude, sind Dankbarkeit, Liebe, Mitgefühl die allerwichtigsten Gefühle, um innerlich und überhaupt gesund zu bleiben. Au Mann! Das wird einem zur Zeit vielleicht schwer gemacht!

Gottseidank gibt es dann sonnige Tage, so wie heute – nach einem enorm nebligen Vormittag war der Nachmittag ein Gedicht. Gottseidank gibt es spirituelle Online-Kongresse mit phantastischen, aufbauenden Interviews. Gottseidank gibt es die beste Freundin aus Schulzeiten, mit der ich regelmäßig telefonieren kann. Gottseidank gibt es Freunde in Deutschland, mit denen ich mailen oder telefonieren kann. Gottseidank gibt es Brieffreundschaften, die mich aufbauen und in denen ich die anderen aufbauen kann. Gottseidank gibt es die Bekanntschaften aus liebevoll.jetzt und die Online-Cafés. Gottseidank gibt es einen unerschütterlich optimistischen Mann an meiner Seite. Gottseidank gibt es Musik, zum Anhören oder auch mal Selbermachen. Gottseidank gibt es Meditationen. Gottseidank gibt es noch meine VLOW-Gruppen. 

Mit all dem muss es sich doch schaffen lassen, einigermaßen durch diese irre Zeit zu kommen.

Was meinen Sie, Baron von Münchhausen?

Montag, 1. November 2021

Angebissene Äpfel

Ach, was bin ich froh, wieder in der richtigen, der biologischen Zeit angekommen zu sein! Mein Tageszeitengefühl stimmt wieder völlig mit der Uhrzeit überein, und ich merke, wie viel entspannter ich durch den Tag gehe. Dieses Gefühl "die Zeit rennt" hat sich wieder verabschiedet.

Willkommen zurück in der Mitteleuropäischen Normalzeit!

Da ich mich im vergangenen Jahr ausführlich zu diesem Thema geäußert habe, lasse ich es für heute hierbei bewenden. Und genieße die kommenden fünf Monate im Einklang mit der biologischen Zeit.

Im letzten Rundbrief von Steffen Lohrer war wieder einmal eine nette, kleine, herzerwärmende Geschichte abgedruckt, die ich gleich erzählen will. Ebenso wie die Geschichte über dasVertrauen, die ich beim letzten Mal teilte, geistert sie aktuell an verschiedenen Stellen des World Wide Web herum. Kein Wunder. Schließlich sind so viele von uns zur Zeit auf einem Weg zu bewussterem Leben und darum bemüht, die Dinge und Situationen unseres Lebens stets mehr anzunehmen und überstürztes Urteilen immer besser zu verlernen.

Hier ein Video, in dem man sich die Geschichte
mit meinem heimatlichen, hessischem Akzent
vorlesen lassen kann.

Die Geschichte lässt sichtbar werden, wie wichtig es ist, den Menschen, mit denen wir zu tun haben, mit innerer Ruhe und Gelassenheit zu begegnen. Und ihnen Zeit und die Möglichkeit zu geben, sich zu erklären. Es ist so wichtig, nicht vorschnell über andere bzw. ihr Handeln zu urteilen.
Das, was wir an der Oberfläche sehen, kann trügerisch sein und in der Tiefe ganz anders aussehen. Solange wir nur auf das Erscheinungsbild schauen, laufen wir Gefahr, dass wir uns über die wahren Motive hinter den Handlungen einer anderen Person täuschen.

Ein kleines Mädchen war mit seiner Mutter auf dem Markt einkaufen gewesen. Von der Gemüsefrau hatte es zwei wunderschön aussehende, rotbackige Äpfel geschenkt bekommen. Diese hielt es nun auf dem Nachhauseweg noch immer in seinen Händen. Als sie an einer Ampel auf das grüne Licht warten mussten, fragte die Mutter ihre kleine Prinzessin liebevoll und mit einem Lächeln:

“Schatz, kannst du deiner Mama bitte einen der beiden Äpfel geben?”

Das Mädchen stutzte und zögerte. Es sah seine Mutter einige Sekunden lang an und biss dann plötzlich in einen Apfel und dann ganz schnell auch in den anderen.

Die Mutter erschrak und spürte, wie ihre freundliche Haltung gegenüber ihrem Herzblatt in sich zusammenbrach und ihr Lächeln auf dem Gesicht gefror. Mit aller Kraft bemühte sie sich, nicht zu zeigen, wie enttäuscht sie war.

Es war eigentlich noch schlimmer: sie war verärgert, dass ihre stets mit Liebe umgebene Tochter nun nicht mit ihr teilen wollte.

Dann aber geschah etwas Unerwartetes. Auf einmal streckte das Mädchen einen der angebissenen Äpfel seiner Mutter hin mit den Worten: “Mami, nimm den hier, der schmeckt besser!”


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

Viel gelesen