Mitte März bis 10. April 2020 täglich. Ab 11. April 2020 erscheinen die Beiträge jeden zweiten Tag. Ab Montag, 22. Juni 2020 immer Montag und Donnerstag abends. Ab Montag, 13. Dezember 2021 am Montagabend nach 22 Uhr.


Montag, 10. August 2020

Unmenschlich



Ein sehr lieber Freund, mit dem ich seit Jahrzehnten tief und herzlich verbunden bin, musste sich vor etwa einem Monat einer schweren, orthopädischen Operation unterziehen. Die Klinik war von sich aus auf ihn zugekommen: sie könnten die schon lange geplante OP jetzt durchführen. Chirurgische und pflegerische Kapazität sowie Betten seien ausreichend vorhanden.
Am Tag nach dem Eingriff hatten wir kurz Kontakt – es ging ihm einigermaßen gut, Nachwirkungen von der Narkose vor allem – und zwei Tage später noch einmal. So weit o.k. Dabei wurden wir unterbrochen, weil der Physiotherapeut ins Zimmer kam.
Seitdem war Funkstille. Ein paar Nachfragen, wie es ihm gehe, blieben unbeantwortet. 
Ich begann, mir wirklich Sorgen zu machen.

Gestern, nach einer weiteren, dringlich formulierten Frage nach seinem Befinden, bekam ich eine halbe Stunde nach Mitternacht, eine Antwort.

Es geht ihm in der Tat richtig mies.
Aber nicht aufgrund seiner Operation.

Sein Bruder, mit dem er ein enges, seelisches Band hat(te), lag schwerkrank in einem Krankenhaus. (Nein, kein COVID19!) Es war deutlich, dass er sich in der letzten Phase seines Lebens befand und es war abzusehen, dass er bald sterben würde.
 
Mein Freund hatte auf alle erdenklichen Arten und Weisen versucht, vom Krankenhaus die Erlaubnis zu bekommen, seinen Bruder besuchen zu dürfen. 
"Mit und ohne Anwalt", wie er mir schrieb. 
Und dieser Freund ist kreativ und hat schon die unmöglichsten Dinge in seinem Leben hinbekommen bzw. für andere Menschen erfochten!
Der Bruder hatte intensiv nach ihm verlangt und, als es ihm wirklich schlecht ging, immer wieder nach ihm gerufen.
Er bekam keine Besuchserlaubnis.
"Wegen Corona."



Am Samstag, in den frühen Abendstunden starb der Bruder. Allein.

Ich frage mich wirklich, was das für Menschen sind, die einem Sterbenden im Angesicht seiner seelischen Not den dringend benötigten Seelentrost verwehren. Die einem Sterbenden, der inbrünstig nach seinem Lieblingsbruder ruft, der erreichbar ist und kommen will, diese Begegnung und Begleitung verwehren.

Was sind das für Ärzte?
Was für Schwestern und Pfleger?
Was sind das für Menschen, die die Einhaltung unsinniger Regeln höher stellen als die Sorge für die ihnen anvertrauten Leidenden ?!?

Was geht in solchen perfekt im System der Maschinenmedizin funktionierenden Menschen vor?
Wie können sie so hart-herzig sein angesichts der tiefen, tiefen Not ihrer Patienten?
Können diese Ärzte, können diese Pfleger, können diese Schwestern sich selbst noch im Spiegel ins Gesicht sehen, in die Augen schauen? *)

Dies alles geht nun schon Monate so, und es sind unzählige Menschen in vergleichbarer, unfassbarer seelischer Not den aller-aller-letzten Weg ihres Lebens gegangen.
Allein gelassen.
Vollkommen allein gelassen.

Es ist schon (zig)tausendmal gesagt und geschrieben worden: Was hat es für einen Sinn, jemanden, der im Sterben liegt, noch vor der eventuellen, und in der momentan aktuellen Situation sehr, sehr unwahrscheinlichen Ansteckung mit Corona schützen zu wollen?
Ach so, die Besucher könnten Schwestern, Pfleger, Ärzte und andere Patienten gefährden?
Wenn doch Masken so gut "die anderen" schützen (darum, wird gesagt, sind sie ja an immer mehr Orten und bei immer mehr Gelegenheiten in Deutschland verpflichtet) – dann könnten die Besucher des Sterbenden doch ausgestattet mit den noch viel sichereren Masken der Klinik sich durchs Krankenhaus bewegen, bis sie im Zimmer der betreffenden Person angekommen sind!

Mein Feund wird wahrscheinlich noch monatelang an dem Erlebten knabbern: dass er den inniggeliebten Bruder nicht begleiten durfte. Ihm nicht beistehen durfte. Sich nicht von ihm verabschieden durfte. Er muss nun mit dem Bewusstsein leben, dass diesem geliebten Menschen ein menschenwürdiger Weg aus dem Leben verwehrt, weggenommen wurde.
Und damit, dass kein Weg, auch kein Rechtsweg in unserem demokratischen Rechtsstaat das Personal des Krankenhauses zu menschenwürdigem Verhalten bringen konnte.

Ich kann nur hoffen, dass seine Frau, wenn auch selbst mit zerbrechlicher Gesundheit, es schafft, ihn gut aufzufangen und in diesen schweren Wochen zu begleiten. Da auch sie ein sehr liebevoller, warmherziger Mensch ist, habe ich da eine gewisse Zuversicht.


*) Ich kann mir nicht helfen, dies lässt mich unweigerlich an andere historische Situationen in der deutschen Geschichte denken, in denen die Bevölkerung massenhaft mitgemacht hat, weil: "Befehl ist Befehl". 
In diesem heutigen Fall geht es nicht einmal um Befehle, sondern 'nur' um Anweisungen, die man nicht befolgen würde, ließe man es zu, dass Sterbende menschenwürdig begleitet werden von denjenigen Menschen, nach denen sie sich sehnen.
Dabei ist sogar beim Militär Befehlsverweigerung (im offiziellen Sprachgebrauch "Gehorsamsverweigerung") straffrei, wenn durch die Ausführung des Befehls 
- die Menschenwürde verletzt oder
- wenn durch das Befolgen eine Straftat begangen würde (§ 11 SG, § 22 WStG).
Nicht ausgeführt werden darf [Hervorhebung d. Verf.] (§ 11 Abs. 2 SG) ein Befehl, dessen Befolgen selbst eine Straftat oder einen schweren Verstoß gegen den Kerngehalt des Völkerrechts zur Folge hätte. 
(Quelle)
Die Menschenwürde wird durch das Ausführen solcher Corona-Regeln auf jeden Fall verletzt
Ob es sich in diesen Fällen auch um unterlassene Hilfeleistung handelt (es liegt ein schwerer, seelischer Notfall vor, bei nach ärztlicher Kunst versorgtem Körper), vermag ich nicht zu beurteilen. Mein Herz sagt: ja liegt vor. Aber Herz und Juristerei sind zwei paar Schuh.
Und wie das mit dem Kerngehalt des Völkerrechts ist, müsste auch juristisch geprüft werden.
Vielleicht sollte man sich auch nur wieder einmal ausführlich mit dem Milgram-Experiment beschäftigen. Man vergisst so leicht, zu was die Menschen in der Lage sind. Wikipedia-Link

1 Kommentar:

  1. J'accuse...
    dieser Titel von Zola's offenen Brief an den Präsidenten 1898 in der Dreyfus-Affäre fiel mir sofort beim Lesen dieses Blogbeitrags ein.
    https://literaturkritik.de/id/6018

    So ganz ist die Situation sicher nicht vergleichbar, aber gewisse Grundprinzipien könnte man schon erkennen, so man mag.

    Krankenhäuser wie Pflegeheime haben hier in deutschen Landen Hausrecht; bedeutet, sie können bestimmen, was in den entsprechenden Einrichtungen passiert = Machtausübung. Schaut man sich die Internetseiten von den Einrichtungen an, so wird man sicher "nette" Bilder sehen und blumige Worte finden, wie umsorgt die Menschen werden. In obigem Fall, wie auch in vielen anderen, wird dies mit Füßen getreten, was zutiefst unchristlich und Menschenverachtend ist. Man kann über das Milgram-Experiment hinausgehen und an den Geist des dritten Reiches erinnern, so man dem Ganzen noch mehr Schärfe geben möchte. Heute ists eben das Prinzip der Nicht-Ansteckung, dem alles untergeordnet wird seitens den entsprechenden Macht-ausübenden oder Diktatoren. Man kann sich dann schon fragen, ob deren Antwort genauso lauten würde, ginge es um deren Bruder oder einen Menschen, mit dem sie tief verbunden sind.

    Die Politik spielt da auch fein mit, nimmt man Altmeiers Worte, dass ein zweiter Lock-down mit aller Macht verhindert werden sollte. Wie das dann zusammen hängen kann, mit der Aussage des deutschen Spanferkelchens, dass täglich 1000 Infektionen gut "wuppbar" sind, weil die entsprechenden Stellen inzwischen über ausreichende Kapazitäten verfügen, steht wohl in den Sternen. Wie dies einzuschätzen ist, kann man sich dann auch fragen angesichts der Tatsache, dass in Meck-Pomm eine Schule geschlossen wurde, weil eine Lehrerin infiziert war, die noch keinen Unterricht gegeben hatte, sondern nur Kontakt mit dem restlichen Lehrkörper hatte: wären dann täglich 1000 Schulschließungen für das Spanferkelchen auch kein Problem? Die Liste mit Unstimmigkeiten lässt sich beliebig fortsetzen.

    Eine interessante Parallele gibts noch zu Zola. Er wurde sanktioniert, weil er Dinge sagte, die auf politischer Ebene nicht opportun waren.
    Heute ist es ähnlich, wenn Menschen, beispielsweise Anwälte oder Sportler, bestimmte Maßnahmen in Frage stellen oder sich nicht so verhalten, wie allgemein gewünscht.

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