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Donnerstag, 2. September 2021

Zupfgeigenhansl

Aus dem Zupfgeigenhansl 1915
Eine Freundin erzählte mir, dass sie sich regelmäßig mit zwei, drei anderen Frauen trifft, um gemeinsam gitarrenbegleitet zu singen. Einfach so, zusammenkommen und singen. Was für eine wunderbare Idee! Zur Zeit kann das prima draußen stattfinden (und damit selbst in Deutschland mit seinen völlig überdrehten Maßnahmen, die wie geschossener Salat anmuten). Und wahrscheinlich ist das auch noch doppelt schön, weil man ja auch die Natur beim Singen noch sieht und spürt.

Jedes Mal auf dem Programm steht bei ihnen das alte, in unserer Kinderzeit als Volkslied bezeichnete "Die Gedanken sind frei". Meine Oma sang es mit Inbrunst, und wir haben es als Kinder auch mit unserer Mutter zuhause immer wieder gesungen. Ich liebte dieses Lied schon als kleines Dötzchen von 7 oder 9 Jahren in jenen Tagen in den frühen 60ern des letzten Jahrhunderts. Ohne verstandesmäßig alle Details des Textes zu begreifen. "Freie Gedanken", fröhlich und nachdrücklich besungen, das war eindrücklich, und ganz gefühlsmäßig waren die mir schon als kleines Kind so wichtig, dass ich das Lied immer wieder schmettern wollte.

Während meine Freundin so fröhlich erzählte vom gemeinsam Singen, kam mir wie von selbst das Liederbuch in den Sinn, aus dem wir zuhause sangen: "Der Zupfgeigenhansl".

In meiner studentischen Zeit und in meinen mittleren Lebensjahren, als mir alles häusliche Singen und vor allem "Volkslieder" bräunlich-verdächtig erschienen, schämte ich mich insgeheim für meine vormalige, kindliche Begeisterung. Es schien mir als ob eklige, braune Soße aus dem Liederbuch und den Liedern hervorquoll.

Was für ein Irrtum.

Ich hätte es besser wissen können. Wuchs ich doch mit einem Vater auf, dem Freiheit und Selbstbe-stimmung über alles gingen. Mit einem Vater, der folgerichtig in der Mitte der 60er seinen sicheren Job bei einer Bank aufgab und eine längere Arbeits-losigkeit riskierte - der allgegenwärtige Untertanengeist in der Bank war für ihn nicht mehr auszuhalten.

Anders als von mir in den bewegten 70ern und 80ern naiv vermutet (aber damals nie verifiziert) ist nämlich im "Zupfgeigenhansl" kein 'typisch braunes' Liedgut versammelt. Er ist das Liederbuch der Wandervogel- und der Jugendbewegung und erschien erstmals 1909.

Aus dem Zupfgeigenhansl 1915
"Die Entstehung der deutschen Jugendbewegung ist quasi eine Entstehung von unten, also durch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich gegen bestehende gesellschaftliche Konventionen wendet. Man kann sie auch als Rebellion der Jugend gegen die bürgerliche Erwachsenenwelt verstehen. Schlagworte dazu sind Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, Selbsterziehung. (…) Im Gegensatz zur internationalen Pfadfinderbewegung waren und sind die Bünde und Gruppen der deutschen Jugendbewegung immer um Autonomie und Unabhängigkeit von staatlichen Stellen bemüht." Soweit die Arbeitsgemeinschaft Pfadfinder im Philatelistenbund.

Der "Zupfgeigenhansl" enthält tatsächlich "Vokslieder". Sie wurden vom damaligen Medizinstudenten und späteren Arzt Hans Breuer auf seinen (Wander)Fahrten gesammelt. Außerdem sind Lieder aus anderen, älteren Volksliedsammlungen aufgenommen. Thematisch sind die Lieder in folgende, wunderbar altmodisch anmutende Schwerpunkten zusammengefasst: Abschied – Minnedienst – Liebesklage – BalladenGeistliche Lieder – Am Abend – Freude – Sommerlust – Auf der Landstraße – Auf Schiffen und Rollwägen – Spinnstube – Soldatenlieder – Schlemmlieder – Beim Bauer – Tanz – Schnurren (Der Einfachheit halber habe ich mich bei Wikipedia informiert).

So sieht eine Stössel-Laute aus
Unser Familienexemplar des "Zupf" wird von meiner Schwester zusammen mit der zugehörigen Stössel-Laute  gehütet. Von welchem Wandervogel aus unserer Verwandtschaft mütterlicherseits genau diese beide zu uns gekommen sind, habe ich leider nicht behalten. Jedenfalls hat schon unsere Mutter sie gehütet wie einen Augapfel.

Für mich sind beide, die ihr heutiges Zuhause in einer hessischen Kleinstadt haben, durch die aktuelle Lage unerreichbar. Glücklicherweise aber gibt es das Internet. Fürs erste half ein pdf der Ausgabe von 1913, und ich hab mir ein sehr gut erhaltenes, historisches Exemplar gerade für'n Appel und 'n Ei bestellt. Ich will mich mit diesem Stückchen persönlicher und Familiengeschichte befassen und ein wenig genauer hinsehen. Wovon haben wir eigentlich damals wirklich gesungen, so begeistert, mit Mutter zuhause am Tisch im Kinderzimmer?


Titel fallen mir ein, von denen nicht alle im pdf auffindbar sind. "Muß i denn, muß i denn", "Kein schöner Land", "Es wollt ein Schneider wandern", "Es freit ein wilder Wassermann" – 'in der Burg wohl über dem See, des Königstochter will er ha'n, die schöne junge Lilofee' geht der Text weiter, und ich kann es noch heute singen. "Ein Vogel wollte Hochzeit machen", "Ade zur guten Nacht", "Lustig ist das Matrosenleben", "Meerstern, ich dich grüße". Und. Und. Und. Je länger ich nachdenke, um so mehr Lieder fallen mir wieder ein, und von den meisten taucht dann auch die Melodie aus irgendeiner Versenkung wieder auf.

Nie hätte ich mir träumen lassen, dass dies alles einmal wieder zum Leben erweckt würde. Wiewohl – es gab eine Zeit, da war manches Lied aus dem Liederbuch auch beinahe schon wieder 'politisch korrekt'. Nämlich damals, als die Liedermachergruppe "Zupfgeigenhansel" ihre Platten machte und auftrat. Was mag aus ihr geworden sein? An sie hab ich auch jahrelang nicht mehr gedacht. "Zupfgeigenhansel folgte zunächst der Idee, deutsche Volkslieder mit freiheitlichem Charakter wiederzuentdecken, teilweise mit eigenen Melodien zu versehen und diese wieder populär zu machen." heißt es bei Wikipedia Und weiter wird dort vermerkt, dass die in den 70ern und 80ern aufkeimende deutsche Folklorebewegung, zu der auch diese Band gehörte, nach dem Aufkommen der 'Neuen Deutschen Welle' dann langsam austrocknete.

Jedoch - hätte mir vor drei Jahren jemand gesagt, dass ich in naher Zukunft ernsthaft übers gemeinsame Singen zur Gitarre nachdenken würde, hätte ich ihm oder ihr vermutlich einen Vogel gezeigt. Ich doch nicht! Das habe ich nun doch wirklich hinter mir gelassen.

Noch so ein Irrtum.

Inzwischen weiß ich es besser. Habe die glücklich machende und befreiende Wirkung des Singens wiederentdeckt. Zwar hatte ich schon mal vor zwanzig Jahren oder so eine Phase, in der ich im Chor gesungen und mich dabei auch enorm wohlgefühlt habe. Aber das war doch noch immer im weitesten Sinn "Kunst" oder "Kultur". Heute geht es mir um eine andere Kultur. Mehr eine des Alltags. Einfach so drauflos singen, um sich wohl und fröhlich zu fühlen – was für eine wunderbare Idee. Warum dafür nicht auch auf jene Lieder zurückgreifen, mit denen sich wunderschöne Kindheitserinnerungen verknüpfen? Und die aus einer langen Tradition freiheitlicher Jugendbeweung stammen?

"Entdecke Deine Lebensfreude wieder" heißt die Parole nach trockenen und austrocknenden eineinhalb Jahren C-Wahn. Dazu gehört, dass ich nun wieder zur 50+-Gymnastik hier im Dorf gehen kann. Endlich wieder Begegnungen mit echten Menschen, und sei es beim Seniorenturnen, und nicht ausschließlich mit digital übermittelten Gesichtern. Und dazu gehört, dass ich mir das Singen ins Leben zurückhole.

Ich bin gespannt, was ich noch alles wiederentdecken oder neu entdecken werde im "Zupf".  


 

3 Kommentare:

  1. Die Lieder von den beiden Sängern von Zupfgeigenhansel in den 70ern habe ich auch immer gerne gehört. Ich habe sie auch bei Konzerten erlebt.
    Sicher gibt es Aufnahmen und Noten im Internet zu finden.
    Dann kannst Du auch die nach- oder mitsingen. Macht bestimmt Spaß!

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  2. Mir fiel beim Lesen über den Zupfgeigenhansel das schöne Gedicht von Anna Tüne ein:

    „Liebe Schwestern,
    vergesst nicht, neben dem Arbeiten und dem Kämpfen,
    neben der Wut und der Geduld
    das Billardspielen zu lernen. Oder greift zur Gitarre oder zur Flöte.
    Lernt das Kochen neu – nicht als Pflicht, sondern als schmatzigen, schmausigen Spaß!
    Denkt Euch Witze aus, lernt erneut den Himmel zu sehen, das Jauchzen beim Tanzen, das laute Rufen, das Miteinander; übt Euch im Lieben.
    Nur so werden wir altersschwer und grau sagen können:
    Ich bin lebenssatt.“

    Anna Tüne

    und jetzt überlege ich, ob ich zunächst meine Blockflötenkenntnisse neu aktiviere, Billardspielen lerne oder einfach nur mich weiterhin im Lieben übe.

    Alles hat was!

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    1. Herzensdank für dies wunderschöne Gedicht, für diese Ermutigung zum LEBEN.

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