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Montag, 25. Juli 2022

Historie

Titelbild des ersten Bandes, zu bestellen hier

Mit meinem eigentlichen Blog-Thema hat mein heutiger Text auf den ersten Blick nicht viel zu tun.
Allenfalls indirekt, insofern als wir das, was wir heute erleben, auch als Folge dessen begreifen können, was damals begann. Zur Zeit lese ich den 2. Band einer kleinen Serie von Büchern aus dem filos Verlag in Nürnberg, die sich mit den Jahren nach 1989 in den beiden Deutschlands befassen, die damals zusammengefügt wurden durch den Beitritt der DDR zur BRD.
Kritische Geister nennen diesen Beitritt Anschluss.

Wie auch immer.

Der erste Band heißt "Einer muss ja hierbleiben"  und erzählt, wie Menschen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR diese Jahre gelebt und erlebt haben, in denen in ihren Leben kein Stein auf dem andern blieb. Ein großartiges und sehr, sehr lesenswertes Buch, das selbst mir eine Menge neue Einsichten und neues Begreifen gebracht hat, die ich mit zahlreichen Menschen befreundet bin, die in der DDR aufgewachsen sind und die großenteils auch heute noch in Ostdeutschland leben. Auch meine eigenen Erinnerungen an die Zeit damals wurden beim Lesen wieder lebendig, das ganze Staunen, aber auch das Erschrecken, die Scham, das Entsetzen, die Hilflosigkeit angesichts dessen, wie mit den Menschen der ehemaligen DDR und mit dem umgesprungen wurde, das sie aufgebaut hatten.
Echtes Zusammengehen, Zusammenwachsen hätte anders ausgesehen.

Der zweite Band hat den Titel "Abenteuer im Wilden Osten" und "versammelt Erfahrungsberichte von Zeitzeugen, die in den Jahren nach der Wende 1989/90 aus den alten in die neuen Budesländer zogen." (Klappentext)

Titelbild des zweiten Bandes, zu bestellen hier

In diesem zweiten Band lese ich aktuell.

Wie auch beim ersten Band immer schön in kleinen Häppchen, weil mir sonst die Emotionen zu sehr durchgehen. Die Autorinnen und Autoren erinnern mit wachem und kritischem Geist diese Periode, in der Vieles alles andere als gut gelaufen ist und in der sich viele Akteure der politischen und wirtschaftlichen Bühne wahrlich nicht mir Ruhm bekleckert haben.

Ein Abschnitt ist mir heute morgen besonders bitter aufgestoßen. Er steht im Bericht eines Mannes, der 1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin war, damals 41 Jahre alt, und der für knapp 2 Jahre als Mitarbeiter einer Firma der Erwachsenenbildung ins Vogtland entsendet wurde. Es wurden vor allem Kurse nach §41 des Arbeitsförderungsgesetzes angeboten. "Die Inhalte: Politische und soziale Ordnung der Bundesrepublik, Arbeitsrecht, Gruppendynamik, Bewerbungstraining etc." Später folgten Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, "die von da an die Grundlage des Unternehmens bildeten". (S. 32) Er analysiert scharfsinnig, und es macht so gesehen Freude, den Text zu lesen.

"Wendezeiten. Auch für mich eine 'Wende', doch nicht als Teil eines auseinanderfallenden 'Kollektivs' der relativen Gleichheit [wie für die Menschen, die in der DDR aufgewachsen waren und gelebt hatten Anm. D.S.], sondern im Bewusstsein eines Einzelnen, der begriff, dass die Verantwortung für das, was ihm widerfuhr, selbst wenn es als machtvolle Maßnahme 'von oben' daherkam, und gerade dann, ihm aufgebürdet wurde und der als Folge Mitleid und Verachtung zu spüren bekam." lese ich und denke: ja, so hat sich das angefühlt.

Und weiter: "Allmählich verschob sie die Achse des gesellschaftlichen Lebens. Die systembedingte Kälte bestimmte nicht nur das Leben des Einzelnen, sondern sorgte auch dafür, dass der Widerstand verkümmerte und der Prototyp des auf sich selbst bezogenen Machers aufstieg und seine Feste nun auch im Osten zu feiern begann. Mit dem Untergang des Realsozialismus veränderte sich das politische Klima im Westen und bereitete, publizistisch breit unterstützt, den Boden für eine Politik vielfältiger Deregulierungen, die den Interessen der gesellschaftlichen Mehrheit schweren Schaden zufügten." (S. 40)

Genau.so.war.das.

Gefühlt, wahrgenommen hatte ich das damals, und erst recht dann in den folgenden Jahren. Nur - ich hätte es niemals so treffend und schön in Worte fassen können, wie es diesem Autor gelungen ist.

Nachdem ich den Absatz gelesen hatte, musste ich erst einmal pausieren. Und jetzt, wenn ich ihn abtippend erneut lese, wird mir wieder genauso übel wie heute morgen beim ersten Lesen.

Tatsächlich können oder müssen wir sogar das, was wir heute erleben, letztlich als Folge dessen begreifen, was damals geschehen ist. Diesen Brocken so klar auf einem Tablett mit Spitzendeckchen serviert zu bekommen, gibt mir ziemlich was zu Knabbern!

Foto: Pixaby lizenzfrei

"So lange geht das schon!" denkt es in mir entsetzt, "damals also hat das angefangen."
Kohls Versprechungen der "Blühenden Landschaften" als Nachfolger von Willy Brandts "Wir wollen mehr Demokratie wagen".

Manchmal ist es nicht schön, einen Blick zurück in die Geschichte zu wagen.
Aber aufschlussreich.
Und lehrreich.

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