Mitte März bis 10. April 2020 täglich. Ab 11. April 2020 erscheinen die Beiträge jeden zweiten Tag. Ab Montag, 22. Juni 2020 immer Montag und Donnerstag abends. Ab Montag, 13. Dezember 2021 am Montagabend nach 22 Uhr.


Donnerstag, 13. Mai 2021

Zum Trutz

Feiger Gedanken
bängliches Schwanken,
weibisches Zagen,

ängstliches Klagen

wendet kein Elend,

macht dich nicht frei.

Allen Gewalten
zum Trutz sich erhalten,
nimmer sich beugen,
kräftig sich zeigen
rufet die Arme
der Götter herbei.

Johann Wolfgang Goethe
Aus dem Singspiel Lila, 1777

Das Kinderbuch von damals

 

Was für eine Herausforderung! Ich war noch nie eine Meisterin im "allen Gewalten zum Trutz".
Allenfalls Lehrling.
Schon als Kind wurde mir ganz anders, als ich im Religionsunterricht über die Leben der Martyrer hörte, und die Geschichte der Hirtenkinder von Fatima, denen - nach dem, was mir damals erzählt wurde - mit den schrecklichsten Foltern gedroht wurde und die trotz allem bei ihrer Schilderung dessen blieben, was sie erlebt hatten und gleichzeitig dasjenige nicht erzählten, das zu verschweigen die ihnen erschienene Jungfrau Maria ihnen aufgetragen hatte, brachte mich zu dem Schluss: das wäre mir kleinem Mädchen aus der Großstadt nie gelungen.

Und jetzt leben wir mitten in einer Situation, die genau das fordert, was Goethe beschreibt.

Noch nie in meinem ganzen Leben war ich so sehr aufgefordert, mir selbst treu zu bleiben.
Noch nie so aufgefordert, meiner Intuition zu folgen.
Auf die innere Stimme zu hören.
Mich unabhängig zu machen und zu halten von dem, was mir von allen Seiten eingeflüstert oder zugeschrien wird: von der einen, von der anderen, und von einer wieder anderen und noch einer anderen.

Das kleine Mädchen in mir sitzt verängstigt in der Ecke und weint: ich kann das alles nicht.
Das ist mir alles zu viel.
Ich will mein schönes Leben von früher zurück.
Früher ging das doch auch alles so.
Einfach. Schön. Warm. Herzlich. Nah. Menschlich.

Aber das war eben früher. Vor Ende Februar 2020.

Dies kleine Mädchen wird sich daran gewöhnen müssen: Jetzt ist alles anders.
Inzwischen dürften so ziemliche alle gemerkt haben, dass es nicht wieder werden wird, wie es war. Unser aller Leben sind tief greifend verändert. Nicht zu übersehen und zu überfühlen natürlich.
Wer sich mit aktuellen psychologischen Untersuchungen zum Thema auseinandersetzt, kann lesend erleben mit welchen einschneidenden Folgen für die Psyche der Erwachsenen und noch viel mehr der der Kinder. Schon in den vergangenen Monaten, und ab jetzt erst recht.

Ausschnitt vom Titelbild des Buches
zuid-afrika. naar de bronnen van de apartheid, Steven Debroy, Antwerpen 1986


Diese eine große Frage, mit ja oder nein zu beantworten und im Fall von ja belohnt mit einem vermutlich grüngefärbten Pass, teilt die Gesellschaft in zwei Hälften: die mit und die ohne. 

Apartheid.
(Was wörtlich übersetzt Getrenntheit bedeutet, Separiertheit.)

 Erst recht, wenn – wie manche vorhersagen – das "Ja" zukünftig alle halbe Jahr erneuert zu werden vorgeschrieben werden sollte.
Eine sozusagen rituelle Erneuerung. Zementierung der Angst vor der Gefahr in den Psychen.

Angesichts eines solchen eventuell jährlich, eventuell halbjährlich zu wiederholenden Rituals kommt mir - wie Assoziationen eben manchmal arbeiten - das Taufversprechen in den Sinn, das die Gläubigen in den christlichen Kirchen in der Osternacht rituell erneuern indem sie drei Mal laut aussprechen, dass sie das Bösen zurückweisen. Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben dies Gelöbnis in den Osternachtfeiern Jahr für Jahr bekräftigt.
Zuletzt 2019. Danach gab es keine echten Osternachtfeiern mehr, nur noch Pseudos, online.
Bis dahin haben Millionen Menschen sich ein Mal im Jahr – mehr oder weniger bewusst – mit dem Bösen wenigstens einen Wimpernschlag lang auseinandergesetzt. Solche "ich widersage" laut auszusprechen im Gottesdienst, lässt keine Seele kalt. Auch wenn die betreffende Person nichts am Hut hat mit der Gestalt des Satans im christlichen Glauben, vielleicht nicht mal viel am Hut hat mit dem christlichen Glauben und hauptsächlich der Atmosphäre wegen die Osternächte besuchte, ist diese rituelle Konfrontation mit dem Bösen etwas, das wirkt.

Widersagst Du dem Satan? – Ich widersage.
Und all seiner Bosheit? – Ich widersage.
Und all seinen Verlockungen? – Ich widersage.

Im aktuellen Jetzt schaue ich ganz neu nach diesem Gelöbnis, das mir in meinen erwachsenen Jahren nicht viel mehr war als Liturgie. Wenn auch mit einem feinen Schauer über der Haut in jenen Momenten. Erneut wollen Fragen beantwortet werden. Fragen, die sich ein denkender Mensch im Lauf seines Lebens viele Male stellt und möglicherweise in verschiedenen Momenten unterschiedlich beantwortet.

Fragen danach, was denn in unserer Zeit der Satan, das Böse sei, dem zu widersagen ist.
Welches Die Verlockungen, denen es zu widerstehen gilt.

So schließt sich der Kreis.


 


Allen Gewalten
zum Trutz sich erhalten,
nimmer sich beugen,

kräftig sich zeigen
rufet die Arme
der Götter herbei.

 

 

  Danke lieber Freund von jenseits der Landesgrenze für den Hinweis auf den Text von Goethe.

1 Kommentar:

  1. Möchte man dem Wort "Apartheid" einen etwas zeitgemäßen englischen und leicht bayrischen Touch einhauchen, so wäre eine Variante:
    Appartheit oder getrennt genommen App art heit.
    App dürfte heutzutage allgemein verständlich sein; das englische "art" hat neben Kunst noch weitere Bedeutungen wie : Kunstgriff, Mittel, Wissenschaft, Magie, List und andere und "heit" kann aus dem bayerischen mit "heute" übersetzt werden. Zusammen genommen betrachtet könnte man auf eine Bedeutung kommen, wie Apps in unserer Zeit gewisse Steuerungen in unserem heutigen Leben übernehmen und damit verbunden die Frage:"Wieviel Raum möchte ich diesem Prozess geben?".
    Es geht ja nicht darum, sie zu verteufeln, sondern eher sich zu fragen:"Wie sehr bleibe ich dann noch in Kontakt mit mir, mit meinen Empfindungen und meinen Gedanken?" "Wieviel gebe ich nach außen ab und wo ist die Grenze bzw. ab wann bin ich von mir getrennt?".
    Man könnte auch den bekannten Gelassenheitsspruch etwas umwandeln und um die Gabe bitten, zu erkennen, welche Apps für einen hilfreich, welche Apps für einen entbehrlich sind und um die Erkenntnis bitten, das eine von dem anderen zu unterscheiden.
    Und dann seinen eigenen Weg gehen.

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