Mitte März bis 10. April 2020 täglich. Ab 11. April 2020 erscheinen die Beiträge jeden zweiten Tag. Ab Montag, 22. Juni 2020 immer Montag und Donnerstag abends. Ab Montag, 13. Dezember 2021 am Montagabend nach 22 Uhr.


Montag, 23. August 2021

Wertezerfall

Reliefskulptur am Landgerichtsgebäude in Frankfurt am Main
Kürzlich schrieb eine meiner Freundinnen in einem Brief, in dem sie über das sinnierte, was aktuell in beinahe allen parlamentarisch-demokratischen Ländern passiert:

"Wo sind all unsere so hoch gepriesenen Werte wie Integrität meines Körpers, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Elternrecht ... geblieben, wo? Alle  übern Haufen geworfen weil die Regierung es sagt, und das schneller als die Polizei erlaubt!"

Genau so schnell, wie die Regierenden es wollen. Kaum Stimmen einer parlamentarischen Opposition, die dagegen protestieren. Es ist mir noch immer ein Rätsel, wo all die kritischen Denker – mindestens bei den Grünen, die doch ihre Wurzeln in der Außerparlamentarischen Opposition haben, die nichts so sehr auf ihre Fahnen geschrieben hatte wie Freiheit und Menschenrechte – geblieben sind.

Ich erinnere mich an mich als kleines Dötzchen, das in der vierten oder fünften Klasse in Sozialkunde erstmals vom Grundgesetz hörte. Davon hörte, wie besonders eine solche Verfassung sei und wie gut geschützt vor gesetzlicher oder polizeilicher Willkür die Menschen in der Bundesrepublik durch die unveräußerlichen Grundrechte seien. Dass man aus der Geschichte gelernt habe: so etwas wie die Rechtlosigkeit und Gewaltherrschaft des Dritten Reiches dürfe und könne nie wieder vorkommen. Dafür hätten die Väter des Grundgesetzes gesorgt. Mit aufgesperrten Ohren lauschte ich, und mit begeistertem Herzen nahm ich das Lehrbuch mit dem Deutschen Grundgesetz und der Hessischen Verfassung mit nach Hause. Wahrscheinlich erzählte ich stolz von dem, was ich gelernt hatte und wie gut es uns in der Bundesrepublik mit einem solchen Grundgesetz gehe.

Über die unveräußerlichen Menschenrechte ging auch später im Gymnasium noch so manche Unterrichtsstunde, in Geschichte – in Abgrenzung zum Dritten Reich und zu den Diktaturen des Warschauer Paktes -, in Gemeinschaftskunde – in Auseinandersetzung mit allerlei Philosophien des 18. Jahrhunderts. Undsoweiter.


Als wir die Schule verließen, war das Vertrauen in die Rechtssicherheit, vor allem in die unverbrüchlich immerwährende Gültigkeit der Grundrechte, die schwerer wögen als jedes andere Recht, tief in unsere Köpfe, Seelen und Herzen gepflanzt. Jedenfalls bei den meisten von uns.

Offenbar aber, so lernen wir jetzt gerade alle, war das trotz all der Anstrengung hunderttausender Lehr-Körper bei vielen nicht wirklich verwurzelt.
Mit ein paar, von Mal zu Mal stärker eingreifenden Gesetzesänderungen ist dies alles wegradiert. Zählt nicht mehr. Nicht mehr die Grundrechte sind das höchst stehende Recht. Sondern ein Infektionsschutzgesetz.

Was das bis in kleinste Verästelungen hinein für auch atmosphärische Folgen hat, habe ich schmerzlich heute im Telefongespräch mit einem guten Freund erfahren. Es geht mir noch sehr nach.

Seine Frau liegt seit sieben Wochen in einer deutschen Großstadt in der Klinik (hat nix mit C zu tun), und die Behandlung wird sich noch lange hinziehen. Besuche sind dort sowieso nur Leuten erlaubt, die durchgeimpft sind. Seit heute müssen sie auch noch einen negativen Schnelltest nachweisen, der nicht älter als 48 Stunden sein darf. Maskenpflicht herrscht sowieso. Mein Freund, fast 80, hat in dieser Klinik ein kafkaeskes Erlebnis nach dem anderen. Vor ein paar Tagen, da war es gerade superwarm, stand er am frühen Nachmittag in der Einlass-Schlange vor dem Krankenhaus. Für 15 Uhr hatte er sich seiner Frau angekündigt, kurz nach 14:30 war er angekommen. Etwa 25 Leute vor ihm in der Schlange. Eine Wachfrau, die Einlasskontrolle machte. Nach minutenlangem Wachten, etwa 8 Positionen war er schon vorgerückt, erfuhren plötzlich alle, dass sie erst ein Formular ausfüllen mussten. Run auf die Formulare, es gab wohl Tische, wo man sie ausfüllen konnte, und dann mit Formular wieder neu anstellen. 'Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied' bedeutete hier: nicht etwa dass alle wieder dieselben Plätze in der Schlange eingenommen hätten wie vorher, wer sich vorschieben konnte, schob sich vor… und so hieß es für ihn, nicht mehr so superschnell zu Fuß, erneut in langer Schlange in der Hitze schmoren.

Angekommen bei der ca. 20-jährigen Sicherheitsfrau, zeigte er den verlangten Impf- und Testnachweis auf seinem Handy vor. Dann sollte er seinen Personalausweis zeigen. – Dumm, den hatte er, mit dem E-Bike gekommen und daher ohne Brieftasche, nicht dabei. Aber er hatte ein Foto auf dem Handy vom Ausweis. Froh zeigte er es vor. Antwort des jungen Huhns: Das könne sie nicht anerkennen. Das Handy hätte er ja gefunden haben können. Er: "Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mit meinen 80 Jahren …." – Na, dann wolle sie mal gnädig sein und diese Personalausweiskopie auf dem Handy akzeptieren.

Aber, triumphierte sie, sie würde ihn trotzdem nicht reinlassen. Er habe nämlich keine FFP2-Maske auf, sondern nur eine OP-Maske. Und sie ließe ihn nur mit FFP2-Maske rein. Er verwies auf die hinter der Frau auf der Tür klebenden Schilder, die sagten: Zugang mit FFP2- oder OP-Maske.

Das wäre ihr egal, so die Frau vom Sicherheitsdienst, sie hätte das Schild nicht geschrieben. Er solle sich gefälligst in der Apotheke eine FFP2-Maske kaufen und dann wiederkommen.
Also machte er sich auf zur Apotheke, die ein paar Minuten entfernt am anderen Ende der Klinik sich befindet. Kaufte die FFP2-Maske. Dackelte zurück. Durfte sich erneut in der Hitze anstellen.

Eineinhalb Stunden nach seiner Ankunft am Krankenhaus und eine Stunde nach der verabredeten Zeit konnte er dann endlich um 16 Uhr seine Frau in ihrem Krankenzimmer begrüßen.

Keine Person in der Warteschlange, die für ihn Partei ergriffen hätte. Niemand, der ihn nach der Rückkehr aus der Apotheke vorgelassen hätte. Einen 80-jährigen, deutlich nicht gut zu Fuß seienden Mann….

Eigentlich bin ich noch immer fassungslos. Mal abgesehen von der an sich schon unmenschlichen Regelung für den Krankenhausbesuch ....  [Hier in dern Niederlanden braucht man nur eine medizinische Mundnasenbedeckun, keinen negativen Test, schon gar nicht die Impfung, um seine kranken Angehörigen in der Klinik besuchen zu können.]  Das ist dann also nach 18 Monaten das Ergebnis der sozialen Isolation der hinter Masken versteckten 1,5-m-Gesellschaft. Welche Unmenschlichkeit hat sich in dieser kurzen Zeit breitgemacht. Es ist wieder soweit. Gib kleinen, unbedeutenden Figuren Macht, und sie kosten sie aus bis in den letzten Zentimeter. Lassen die anderen spüren, wer hier das Sagen hat.

Das hatten wir doch alles schon mal.

Die komplette Abwesenheit jeglicher Menschlichkeit und Mit-Menschlichkeit macht mir Angst. Wenn das die vorherrschende Stimmung, der vorherrschende Umgangston in der Gesellschaft ist, dann gute Nacht.

Jetzt, ein paar Stunden nach dem Telefonat, nachdem ich das alles mir von der Seele geschrieben habe, geht es mir etwas besser, blicke ich mich um in meinem Leben.

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Und ich bin froh, dass ich eine Menge Menschen kenne und um mich habe, die völlig anders ticken. Von denen ich weiß, dass sie – hätten sie mit meinem Freund in der Schlange gestanden – ihm bei gestanden hätten in der Diskussion mit der jugendlichen Torwächterin. Oder zumindest nach der Rückkehr von der Apotheke dafür gesorgt hätten, dass er nicht wieder völlig hinten sich anstellen hätte müssen.

Bin froh, dass es noch viele, viele Menschen gibt, die sich von dieser Eineinhalb-Meter-Kälte nicht einfrieren lassen. Die sich ihre Herz-lichkeit bewahren und sie gerade jetzt besonders zum Ausdruck bringen.
An diese Menschen halte ich mich. Mit solchen Menschen kann man überall, wo man ist, wo man hinkommt, kleine Keimzellen von Wärme und Mitmenschlichkeit aufbauen. Und hoffen, und sehen, wie sie wie in einem Schneeballsystem die Kälte von innen her wieder aufwärmen.

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