Der erste Morgen des neuen Jahres. Was für eine wunderbare Stille. Es ist draußen wirklich ganz still. Keine menschlichen Geräusche. Keine Motor- und Reifengeräusche von der nahen Autobahn. Die grässlichen Gebläse in den hinterm Bahnhof liegenden, in den letzten Jahren verfünffachten Getreidesilos des Korn- und Düngemittelhändlers schweigen. Keine Menschenseele ist draußen zu sehen oder zu hören.
Die Hühner im Garten der Gegenüber-Nachbarn gackern. Irgendwo fliegt ein Vögelchen auf und zwitschert dabei. Drei, vier Gänse fliegen, laut rufend, über das Haus hinweg. Ansonsten: Stille.
Aufatmen.
Eine tiefe Liebe zum Leben, wie es eigentlich gemeint ist, füllt mich aus. Ein tiefes, stilles Glück.
Welch ein erfüllender Start ins neue Jahr! Lang her, dass ich mich so gefühlt habe.
Später dann fällt mir das Museums-Magazin für Frankfurt, Ausgabe Januar 2022, in die Hände.
Werbung für die Ausstellung im Frankfurter Kunstverein - facebook |
Ich
blättere es durch, lese hier, schaue dort. Ein voller Terminkalender in Museen
und Galerien der Stadt, des gesamten Rhein-Main-Gebietes und darum herum. Die
Artikel haben Faszinationskraft. Machen Appetit auf die Ausstellungen. Eine
zieht mich besonders an, im Frankfurter Kunstverein: "Die Intelligenz der
Pflanzen". Läuft bis zunächst 30. Januar, verlängert bis 20. Februar.
Trotz Verlängerung keine Chance, sie zu sehen.
Aktuelle Einreisebestimmungen:
sich vorher digital anmelden; die Niederlande gelten momentan als "Hochrisikogebiet",
d.h. nach Ankunft am Zielort Zwangsquarantäne und Test-Orgien. Entsprechende
Beweise von irgendeinem "g" – und damit ist leider nicht glücklich,
geliebt, gelassen gemeint, die führte ich mit viel Vergnügen mit mir – sind
bei Einreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln bereits vor Antritt der Reise
vorzulegen bzw. im Zug mitzuführen und bei der Grenzkontrolle vorzulegen. Herzlichen Dank.
Erinnert sich noch jemand?
Freizügigkeit innerhalb der Europäischen
Union. Man konnte - es ist gefühlt Ewigkeiten her - jederzeit kreuz und quer hin und her reisen, ohne
kontrolliert zu werden.
Und ohne mehr Voraussetzungen zu erfüllen als:
EU-Bürger zu sein.
Jetzt steht auf allen Informationsseiten des Bundes über die
aktuellen Regelungen: Kontrollen durch die Grenzbehörden können jederzeit
stattfinden. Und wehe, Du hast dann keinen Nachweis über eines der
"g" bei Dir!
Mit leicht bitterem Geschmack im Mund blättere ich weiter.
Das Magazin sieht aus wie immer. Es könnte auch vom Januar 2018 sein, qua
Ausstrahlung und Anziehungskraft. Wenn man darin blättert und sich berühren
lässt, entsteht ganz von selbst ein Gefühl von: da könnte ich hingehen, und
dahin auch. Ach ja, und auch jenes finde ich sehr interessant…. und so formt
sich ein ganzes Museumsbesuchsprogramm für einen nächsten Besuch in der
Heimatstadt.
Doch dann bleibt mir die spontan entstandene, Vorfreude im Halse stecken. Sie
ist leider vollkommen unrealistisch.
Die Macher des Magazins gehen mit keinem Wort auf die besondere Situation ein.
Nirgendwo steht, was doch eigentlich in einem dick eingerahmten Textfeld mit
fettgedruckten roten Buchstaben mitgeteilt werden müsste – so außergewöhnlich
und bis Ende 2020 unvorstellbar gewesen ist es:
dass nämlich der Zugang nur
Menschen mit dem offiziell anerkannten Status "genesen" oder
"vollständig geimpft", im Zweifelsfall noch plus negativem Test,
erlaubt ist.
Allein schon die pure Anwesenheit dieser Regel verdürbe mir jeden Besuch im Museum (oder sonstwo), völlig unabhängig davon, welches der offiziellen "g" mir zuerkannt ist. Ich kann nicht mit gutem Gefühl ein Museum besuchen, mich an 'Kultur' erfreuen, wenn von vorneherein schon mal 25% (ungefähr) meiner Mitmenschen vom Museumsbesuch ausgeschlossen sind. Wirkliche, echte, tief empfundene und gelebte Kultur, genauso übrigens wie gelebte Religiosität, hat für mich ganz, ganz viel mit (Mit-)Menschlichkeit zu tun, Humanitas im weitesten Sinn. Und so kann ein Museumsbesuch unter diesen aktuellen 'Umständen einer Un-Kultur' für mich niemals ein warmherziges, liebevolles Kultur-Erleben sein. Wie könnte ich etwas genießen, wenn ich gleichzeitig weiß, dass Mit-Menschen, die genau so kulturinteressiert, genauso gebildet, genauso tief empfindend sind wie ich, per se von diesem Erleben ausgeschlossen sind?
Und damit komme ich zu meinem Vorsatz vom vergangen Jahresanfang. Den Text, den ich da in den Mittelpunkt gestellt hatte, habe ich mir im Lauf des Jahres viel zu selten erneut vor Augen geholt.
"Ich werde kein ungelebtes Leben sterben."
Mein 2021 hatte viel zu viel ungelebtes Leben. Menschen, die ich nicht gesehen habe. Dinge, die ich nicht getan habe. Aktivitäten, die ich unterlassen habe. Alles wegen der allesüberschattenden Bedrohung durch (die Maßnahmen gegen) 👑 die Bekrönung, die schwer auf unser aller Köpfe drückt.
Das wird dies Jahr anders.
Und darum
schreibe ich mir den Text von Dawna Markowa, den ich Anfang Januar 2021 zitierte, noch einmal über das neue Jahr, diesmal mit tieferer Bewusstheit,
und mit kleinen, für mich passenderen Umformulierungen:
Ich werde kein
ungelebtes Leben sterben.
Ich werde furchtlos
leben vorm Fallen oder Feuer fangen.
Ich wähle, meine
Tage zu bewohnen,
und erlaube
meiner Lebensweise, mich zu öffnen,
um mich beherzter
sein zu lassen,
zugänglicher,
um mein Herz zu
lösen,
bis es ein Flügel
wird,
eine Fackel, ein
Versprechen.
Ich wähle, meine
Wichtigkeit zu riskieren;
so zu leben, dass
das, was zu mir als Same kommt,
als Blüte zum
Nächsten geht,
und das, was zu
mir als Blüte kommt,
weiter geht, als
eine Frucht.
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