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Donnerstag, 3. März 2022

Cum grano salis

Bevor ich vor 14 Jahren in die Niederlande kam, lebte ich in dem Gefühl, dass Unterschiede in der Art zu Leben und miteinander umzugehen zwar vorhanden waren, diese aber doch so groß auch wieder nicht sein konnten. Immerhin sind wir benachbarte Länder, und in vielen der heutigen Grenzregionen waren in der Vergangenheit die Übergänge fließend und fand viel Vermischung untereinander statt.
Einmal hier lebend, fiel mir sehr, sehr schnell auf, dass die alltagskulturellen Unterschiede auf vielen Gebieten enorm sind.

Schon bald reifte in mir die Idee, darüber zu schreiben. Ich dachte an Dinge wie die Standardgröße von Kaffeetassen; Geschmack und Konsistenz von Brot; die Bedeutung von Fritiertem im Speiseplan; Rituale rund um Geburtstage; bevorzugte Kuchen und Gebäcke; die selbstverständliche Anwesenheit indonesischer und anderer asiatischer Würzart und Zutaten in jedem Supermarkt und jeder Küche; Pizzerien und 'italienische' Restaurants, die im Allgemeinen von Ägyptern-Marokkanern-Algeriern-… betrieben werden; den allgemein verbreiteten Geruch von Waschmitteln-Weichspülern-Abwaschmitteln-Putzmitteln; Tageszeitenbezeichnungen, die Uhrzeiten beinhalten; die Achtsamkeit gegenüber fahrradfahrenden Menschen im Straßenerkehr; 'niederländisch pünktlich' sein und das bis März 2020 verbreitete Begrüßungsritual von (Pseudo)Kuss-auf-Wange-links-(Pseudo)Kuss-auf-Wange-rechts-(Pseudo)Kuss-auf-Wange-links. (Letzteres ist inzwischen völlig verschwunden, und ich glaube, zur Zeit kann niemand sich vorstellen, das je wieder zu tun.)

Diese Sammlung von Kurztexten hat bislang noch nicht den Weg vom Kopf über Finger und Tasten in meinen PC gefunden.

Fleur de Sel - die bei weitem schackhaftesten Salzkristalle
In den vergangenen zwei Jahren habe ich dann etwas ganz anderes sehr, sehr schätzen gelernt: Viele Menschen in diesem Land nehmen Regeln 'cum grano salis', mit einem Körnchen Salz. Zwar ernst, aber nur solange sie sie nachvollziehen können oder wollen, sie sinnvoll finden und sie die Entfaltung des Persönlichen nicht zu sehr einengen. Ausnahmen – wie z.B. im Bibelbelt, jener Region, in der nach den sehr bibeltreu-streng-reformierten Grundsätzen gelebt wird – bestehen selbstverständlich auch.

Anfangs, und dies anfangs darf man ruhig bis Beginn 2020 ausdehnen, - ich gebe es zu – war das für mich oft eher Anlass zum Ärgernis. Dies "regels aan de laars lappen", zu Deutsch sinngemäß: "sich nichts aus den Regeln machen" fiel mir hauptsächlich im Straßenverkehr auf, beim massenhaften Übertreten von Geschwindigkeitsbeschränkungen, welche aus Gutem Grund (Lärmschutz, Umweltschutz, Sicherheit) aufgestellt sind; und beim abenteuerlustigen Überholen auf zweispurigen Straßen mit durchgezogenem Strich. Oder auch im Zusammenhang mit manchmal großzügiger Auslegung die Frische von Lebensmitteln betreffend. Oder bezüglich Vorsicht im Umgang mit dem eigenen Körper; Viele bemerken hier erst, dass gesundheitlich etwas nicht stimmt, wenn sie schon beinahe den Kopf unterm Arm tragen, und waghalsige Aktionen z.B. beim Putzen der nach außen aufgehenden Fenster, bei Umbauarbeiten und selbst bei professionellen Solaranlagenbauern sind zuhauf zu bewundern.

In den letzten beiden Jahren jedoch ist mir dieser eher lockere Umgang mit Regeln richtig ans Herz gewachsen.

So sind mir hier niemals solche Geschichten von Denunziation zu Ohren gekommen, wie Bekannte aus Deutschland sie leider doch immer wieder erzählen. Angeblafftwerden beim Einkaufen, weil jemand keine Maske trägt, habe ich nicht ein Mal mitgemacht. Eine Bekannte von mir hat noch nie eine Maske aufgehabt und erzählte kürzlich, dass sie im örtlichen Supermarkt allenfalls mal unwirsche Blicke von Miteinkaufenden geerntet hat. Nicht ein einziges Mal wurde sie vom Personal des Ladens ermahnt, geschweige denn bedroht, dass sie sonst aus dem Laden fliege bzw. man sie bei der Polizei anzeigen werde. Wachleute, die am Eingang darauf achten, dass niemand ohne Gesichtsverhüllung den Laden betritt oder sogar die Kunden zum Stand mit der gerade gesetzlich vorgeschriebenen Sorte Masken 'geleiten', damit diese vor Betreten des Ladens erworben und angelegt werden – undenkbar. Jedenfalls hier bei uns im Norden; wie diese Dinge in den großen Städten gelaufen sind, fehlt mir die Erfahrung. Seit einigen Wochen sind an sich die wiederverwendbaren Masken aus Stoff nicht mehr erlaubt. Manche halten sich daran. Viele nicht. Kein Hahn, der danach kräht. "Leben und leben lassen" ist ein ganz, ganz wichtiger Grundsatz der hiesigen Alltagskultur.

Nur vier Besucher im heimischen Wohnzimmer zugelassen? Viele halten sich dran, vor allem die Älteren. Aber es interessiert auch niemanden, wenn ganz deutlich die Nachbarn das nicht tun und eines Tages die Einfahrt und das Trottoir vorm Haus zugeparkt ist mit Autos, die dort sonst nie stehen. Kindergeburtstag in Zeiten von Corona? Darf eigentlich nicht. Aber die Kleinen müssen doch auch leben dürfen? Wenigstens ein bisschen! Aus diesem Grund durften Kinder auch die ganze Zeit hier immer zusammenspielen, selbst in den Zeiten des ersten Lockdowns. Es gab immer Vertrauen auf die Immunkraft der Kinder. Und dass Kinder jünger als 12 die berühmte Impfung erhalten hätten, habe ich noch nie gehört. Wohingegen eine Freundin, die in einem deutschen Kindergarten in einer unserer vergleichbaren dörflichen Umgebung arbeitet, mir kürzlich erzählte, dass dort schon die ersten Kindergartenkinder die Spritze erhalten hätten.

Seit 25. Februar ist hier im Land nun offiziell die Maskenpflicht gefallen, außer im öffentlichen Personenverkehr und bei Großveranstaltungen mit mehr als 500 Besuchern in Innenräumen. Verkündet wurde das bereits in der Pressekonferenz vom 15. Februar, siehe dazu meinen entsprechenden Blog. Kurz darauf bereits war überall der freie Umgang mit den Regeln zu erleben.

Aus dem Straßenbild waren Masken so gut wie verschwunden, außer in der Nähe von Bahnhöfen. In einem der Geschäfte, die ich regelmäßig aufsuche, sah ich nurmehr freie Gesichter. Die Stimmung war gelöst, fröhlich, man konnte wieder normal mit einander kommunizieren. Als ich die Ladeninhaberin fragte: "Sie laufen hier alle schon mit offenem Gesicht herum?" zuckte sie lachend mit den Schultern: "Was soll das, die eine Woche noch!"

Vorgestern im Zug heimwärts von einer Station, in der der Zug die Fahrtrichtung ändert, war ich ein bisschen knapp vor der Abfahrt und stieg erst mal unmaskiert ein. Ich traf auf den Lokführer, der gerade vom einen Ende des Triebwagens zum anderen lief. Im Vorbeigehen deutete er (mit schon seit Januar nicht mehr erlaubter Stoffmaske im Gesicht) auf die Maske und dann fragend auf mich. "Ja, ja, kommt gleich" antwortete ich, und damit war es gut. Weiter hinten im Wagen gabs offenbar einen Dialog mit einem anderen Fahrgast, der was gesagt haben musste in dem Sinn von: finde ich nicht sinnvoll. Ich hörte den Lokführer im achselzuckenden Weitergehen laut sagen: "Wollen Sie die offizielle Meinung hören, die ich vertreten muss? Oder meine persönliche Ansicht?". Sprachs und verschwand im Führerhaus.

Leben und leben lassen. Sicher in einem noch nicht einmal zu einem Viertel besetzten Zug, in dem viele, viele Meter Abstand zwischen den Fahrgästen liegen.

Karneval, der traditionell in den südlichen Provinzen Brabant und Limburg sehr ausgelassen gefeiert wird, war hier nicht abgesagt. Zwar beschworen die Politiker die Bevölkerung der nördlichen Provinzen, jeglichen Karnevalstourismus zu unterlassen und dort Fasching zu feiern, wo in der eigenen Umgebung dies stattfindet. Andererseits waren Überschriften zu lesen, denen zufolge von Bierbrauern und Gastronomen nach dem Feier-Verbot im vergangenen Jahr ein besonders ausgelassener Karneval zu erwarten war.  Man erwartete, dass viele Menschen es als Art "Befreiungstag" feiern würden, und auch im Nachhinein wird so darüber berichtet. Den Menschen war offensichtlich danach, endlich wieder einmal so richtig über die Stränge zu schlagen.

"Bevrijdingsdag" – so heißt eigentlich der niederländische Nationalfeiertag am 5. Mai.
Es ist der Tag an dem die Befreiung von den deutschen Besatzern (5.5.1945) gefeiert wird.

 

Am 4. Mai 1945 kapitulierte in Lüneburg der deutsche Admiral Hans-Georg von Friedeburg im Namen der deutschen Truppen in Nordwestdeutschland, in den Niederlanden, Schleswig-Holstein und Dänemark gegenüber dem britischen Feldmarschall Montgomery. Am 5. Mai bestellte der Canadische General Charles Foulkes den Oberbefehlshaber Johannes Blaskowitz ein ins Hotel De Wereld in Wageningen, um dort in Gegenwart von Prinz Bernhard (Kommandant der 'Binnenlandse Strijdkrachten') die genauere Ausarbeitung der Kapitulation der deutschen Truppen in den Niederlanden zu besprechen. (Quelle: niederländische Wikipedia, Übersetzung von mir) https://nl.wikipedia.org/wiki/Bevrijdingsdag

 

 

 

 

 

 

 

 

Fotos links: Besprechung der Details der deutschen Kapitulation in Wageningen. Foto rechts: Entwaffnung deutscher Soldaten durch Canadische Truppen in Amsterdam am 9.5.1945.
Beide Fotos Wikimedia Commons.

 

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