Ein wunderbarer,
sonniger, nicht zu warmer Maienmorgen. Da später wieder mehr Wolken aufziehen
sollen, mache ich meinen Spaziergang gleich nach dem Spätstück (Frühstück wäre
gelogen). Wie meistens, laufe ich als erstes durch den Park. Kein Mensch sonst
ist unterwegs. Es sind auch keine Enten, Blesshühner oder Teichrallen zu sehen.
Nur Bäume, Sträucher, Wiese, Wasser, Riedgras, gelbe Lilien, Wind. Und Stille.
Ich genieße nach Strich und Faden, verbinde mich zwischendurch mit verschiedenen
der markanten Baumpersönlichkeiten und laufe langsam Richtung Bahnstation.
Das Museum im
Historischen Bahnhof ist noch immer C-Virus-bedingt geschlossen. Das macht mich
traurig. Es sollte normalerweise an einem Sonntagmorgen kurz nach 10 Uhr so langsam
aufwachen.
Durch die großen Fenster schaue ich nach innen, wo die
Sonderausstellung über "Zugbeleiter und Lokführer" seit mehr als zwei
Monaten von niemand mehr betrachtet werden kann.
Und dann beschließe
ich, statt meinen Weg über die Straße weiter zu verfolgen, heute einmal über
den Bahnsteig zu laufen. Seit ebenfalls mehr als zwei Monaten bin ich nicht
mehr hier gewesen.
Alles wie
ausgestorben. Stille.
Und dann auf
einmal schlägt das Fernweh zu.
Ich will wieder
Bahnfahren können! Will wieder frei und ungehindert dorthin reisen können,
wohin ich möchte!Wieder nach Frankfurt fahren. Wieder mit meiner Freundin
einen Tagesausflug nach Amsterdam, Amersfoort, Deventer oder was-weiß-ich-wohin
machen! Einfach mit der OV-chipkaart einchecken und losfahren!
Aber.
Währenddessen
schlendere ich über den Bahnsteig. Auf einmal fällt es mir auf: es hängt keine
einzige Reklame hier, weder auf diesem Bahnsteig, noch auf jenem gegenüber. Die
Reklametafeln, auf denen sonst für H&M, irgendeinen supergünstigen Handytarif,
eine besonders fröhliche Start-in-den-Morgen-Sendung im Radio xy wirbt – leer.
Tabula rasa. Weiße Fläche.
*Das* habe ich überhaupt
noch nie gesehen: keinerlei externe Werbung mehr auf dem Bahnhof. Kaum etwas
könnte das Ausmaß der C-Virus-Krise deutlicher veranschaulichen. Es gibt keine Reisenden mehr, für die sich die
Ausgaben für Werbung lohnen würden. *)
Sehr nachdenklich
und still gehe ich weiter. Es hat mir die Reiselust ein bisschen verschlagen.
Kurz darauf
fallen mir noch die Hinweise zum 'richtigen Verhalten' im Bus in C-Virus-Zeiten
auf, die im Schaukasten neben dem Fahrplan hängen. Die inzwischen jedem und
jeder bekannten Verhaltensweisen.
In Deutschland
würde wahrscheinlich neben der deutsch- und englischssprachigen Version eine
weitere in türkischer Sprache hängen. Hier hängt eine auf Arabisch. Hinweis
darauf, wie viele marrokanisch-stämmige Immigranten es hier in den Niederlanden
gibt.
Allmählich finde
ich im Weitergehen mein Glücksgefühl aus dem Park zurück.
Gut denn. Ich
kann nicht reisen.
Was will der
Dichter damit sagen? Vielleicht, dass ich hier mehr ankommen soll? Neben dem
Heimatgefühl 'Frankfurt' auch ein Zuhausegefühl 'Zuidbroek' entwickeln?
Und während ich
meinen Weg fortsetze und die aus dem Dorf herausführende Straße überquere, das
Muntendammerdiep erreiche – das früher eine viel befahrene Wasserstraße war,
voller Lastkähne – schaue ich mir aufmerksam um. Immerhin lebe ich in einer
Gegend, in der andere Urlaub machen.
Ich.lebe.in.einer.Gegend.in.der.andere.Urlaub.machen!
So geschieht,
worüber ich schon viel gelesen habe. Mit dem veränderten Standpunkt sehe ich
alles neu. Sehe meine Umgebung, die ich schon lange nur noch als Dekor, Bühnenbild
meines gefühlt ewiggleichen Dorfalltags abgestempelt habe.
Wie schön es hier
ist! Was für idyllische Blicke sich mir bieten, und zwar schlicht auf meiner,
unserer täglichen Spazierroute.
Dieses von nicht
viel Leben mehr erfüllte Muntendammerdiep sieht doch eigentlich ganz romantisch
aus.
Und der kaum
benutzte Seitenarm unseres "Passantenhafens" (Yachthafens) sieht auch
ganz bezaubernd aus, wenn man richtig hinschaut. Zum ersten Mal in den fast 8
Jahren, die ich jetzt hier wohne, laufe ich über den hölzernen Anleger, ganz
dicht am Wasser.
Entdecke eine kleine
Entenfamilie mit 2 Küken.
Dann wieder ein
romantischer Blick, in Richtung Winschoterdiep, mit der alten Hebebrücke aus
1916 im Bild, die nur im Handbetrieb bewegt werden kann. Darüber führte damals
der Hauptzugangsweg aus dem westlich gelegenen Sappemeer ins Dorf. Heute bewegen
sich hier nur noch Fußgänger und Fahrräder; Autos fahren einen Bogen und dann
über eine feste Brücke, von der man nicht einmal merkt, dass es eine Brücke
ist.
So verfolge ich
mit neuer Aufmerksamkeit meinen Weg weiter auf unserer täglichen Spazierroute
und komme mit einem glücklichen Gefühl bei unserem Haus an.
Wie war das
gleich wieder? "Elk nadeel heb z'n voordeel." (Johan Cruijff)
*) Inzwischen weiß ich, dass meine Interpretation
falsch war. Hinter den weißen Flächen steckt ein ökonomischer Streit eines
Anbieters von solcher Reklame. Er hatte letztes Jahr die Eisenbahngesellschaft
NS (Nederlandse Spoorwegen) verklagt, weil ein Mitbewerber den millionenschweren
Reklamevertrag ohne europaweite Ausschreibung erhalten hatte. Und Recht
bekommen. Nun muss ausgeschrieben und neu kontraktiert werden.
Für meine
Begriffe bleibt es aber ein wunderbares Sinnbild, dass dies gerade jetzt so
ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen