Mitte März bis 10. April 2020 täglich. Ab 11. April 2020 erscheinen die Beiträge jeden zweiten Tag. Ab Montag, 22. Juni 2020 immer Montag und Donnerstag abends. Ab Montag, 13. Dezember 2021 am Montagabend nach 22 Uhr.


Mittwoch, 10. Juni 2020

Reisen



"Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen."

Goethe inder Campagna, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1787)
Als Goethe den oben zitierten Satz gegenüber Caroline Herder aussprach (zwischen 7. und 9.9.1788, zitiert im Brief von Caroline an ihren Mann Johann Gottfried Herder, 12.9.1788), war man noch mitten im Postkutschen-zeitalter.  Mit Reisen ist hier ganz selbstverständlich der Gesamtprozess des Unterwegsseins gemeint. Nicht nur die Zeit, die in der Postkutsche verbracht wurde, sondern auch die Aufenthalte in den Orten, die man besuchte. Mit kürzerem oder längerem Verbleib.

Reisen im (Post)Kutschenzeitalter war alles andere als komfortabel, auch nicht immer ungefährlich. Und doch haben die Menschen, die es sich leisten konnten, es auf sich genommen. Das, was sie sich von den Reisen erhofften, war es ihnen wert. Meistens kam man zwar ermüdet und durchgerüttelt, aber ansonsten gesund am Fahrziel an. Goethe reiste bis ins hohe Alter auf diese Weise, und ich muss sagen: das bewundere ich.

Heute sind wir meist nur noch unterwegs, um anzukommen. Und nennen auch das 'reisen'.  Unsere Leben finden an verschiedenen Orten statt, heute hier, morgen da, und ob wir in A sind oder in B, meist geht alles so weiter wie immer. Selbst unsere Urlaubsreisen sind häufig genau so gefüllt wie der Rest unserer Leben; ohne www und Mobilfunk fühlen wir uns unvollständig; wir wechseln zwar den Ort, aber nicht unsere Gewohnheiten.

Die Verkehrsmittel, mit denen wir Heutigen uns von A nach B transportieren lassen können, sind schnell und komfortabel. 
ICE im Süden Deutschlands
Das machte bis vor drei Monaten dies 'Reisen' zu einer angenehmen Sache. Wenn es was zu meckern gab, dann meist auf einem hohen Niveau – Verbindung verpasst, Koffer nicht auffindbar -, aber echte Dramen passierten glücklicher-weise sehr, sehr selten.

Vor ein paar Tagen nun hat die Deutsche Bahn eine saisonale Zugverbindung angekündigt, die sich für mich wie ein Traum liest: ein ICE von Norddeich-Mole über Leer und Kassel nach München. Das könnte bedeuten: meine Bahnfahrt nach Frankfurt wird schneller, ich muss nur noch ein Mal umsteigen, kann bis Kassel-Wilhelmshöhe gemütlich sitzen bleiben.
Unter normalen Bedingungen ein Traum:  ein ziemlich komfortabler Zug, Internet via WiFi, Service am Platz. Und ca. 4 Stunden Fahrt genießen ohne Umsteigen. Reisen um zu reisen.
Könnte man sagen.

Die Fahrt genießen. Da liegt nun gerade das Problem.

Schön, dieses gestellte Foto der Deutschen Bahn:
der Zug ist, abgesehen von einem Fahrgast, leer.
Denn diese vier Stunden müsste ich unter den heutigen Bedingungen ununterbrochen maskiert im Zug sitzen. Angesichts der Tatsache, dass dies die empfohlene, maximale Tragedauer einer Maske überschreitet, müsste ich diese zwischendurch wechseln. Im Klo? Im Abteil? Auf dem Gang?
Mitarbeiter des Bordbistro nimmt
Zahlung entgegen.





Was es mit meiner Gesundheit tut, 4 Stunden lang unter verminderter Sauerstoffzufuhr und erhöhter Aufnahme von CO2 aus meiner eigenen Ausatem-Luft plus permanenten Zurückatmens eventuell in meinem Atem enthaltener Bakterien oder Viren zu sitzen – die Frage wäre noch von unabhängingen Forschern zu beantworten.

Das sollte man sich nicht nur nicht antun. Das darf man sich nicht antun.
Reisen um zu Reisen - in öffentlichen Verkehrsmitteln ist dies zur Zeit keine Option.

Die nächste Fahrt nach Frankfurt und zurück findet im Auto statt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Viel gelesen