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Samstag, 4. April 2020

Das Abnorme beginnt alltäglich zu werden

Irgendwas muss dran sein an dem Spruch mit dem Menschen als Gewohnheitstier.
Bei mir selbst beobachte ich, dass ich Verhaltensweisen als 'normal' beginne zu erfahren, bei denen ich mir vor zwei Monaten noch selbst einen Vogel gezeigt hätte:

Wann immer ich von draußen zurückkomme, ist der erste Gang, noch mit Jacke an, zum Händewaschen mit warmem Wasser und Seife. 20-30 Sekunden lang einseifen, nicht zu vergessen!

Einkäufe werde nur noch mit Handschuhen an erledigt, Die Handschuhe selbst nach vollbrachtem Einkauf mit feuchten Tüchern gereinigt und dann so nebeneinander auf dem Rücksitz deponiert, dass die Handflächen nach oben weisen, einander und auch sonst weiter nichts berühren. Oh ja, und wir fahren jetzt Einkaufen, weil immer für eine ganze Woche im Voraus gekauft wird. Zwischendurch keine weiteren Besuche im Supermarkt; ist irgendwas alle, behelfen wir uns.
Die eingekauften Lebensmittel kommen zuhause erst einmal in 'Quarantäne' in die Beiküche und werden erst am nächsten Tag an ihren Platz gestellt. Ausgenommen zu Kühlendes, das wird nach zweistündigem 'Ausruhen' (man weiß schon, hier sollte eigentlich das Wort mit "Qu.." stehen) in der kühlen Beiküche in den Kühlschrank geräumt. Danach: wieder Händewaschen! Obst und Gemüse, lose gekauft, weil aus dem Bio-Laden, wird vor dem Verzehr immer sehr warm gewaschen, und gründlich! Extra gründlich, wenn es roh und ungeschält gegessen werden soll.

Briefe und Pakete kommen erst einmal mindestens einen Tag - Achtung, Qu...-Wort! - auf der Treppe zum Dachgeschoss zu liegen. Wer weiß, wer alles die Poststücke in den Händen gehalten hat?! Auf Papier soll das Virus ja nur wenige Stunden überleben können, heißt es. Auf Plastik länger; darum werden die Plastikversandtüten um Zeitschriften erst noch mit einem Alkoholtüchlein gereinigt, ehe mit spitzen Fingern das Plastik entfernt und sofort weggeworfen wird. Danach wiederum: Händewaschen! Pakete dürfen ebenfalls erst ausführlich Bekanntschaft mit einem Reinigungstuch machen, bevor sie geöffnet werden.

Auch anderes Verhalten, das einer im Februar übelgenommen worden wäre, gilt nun als höflich und vorsichtig: beim Spazierengehen sehe ich in der Ferne jemand auf dem Fußgängerweg auf mich zukommen. Anstatt freundlich-neugierig auf diese Person zu zu gehen, könnte ja jemand sein, den oder die ich kenne, wechselt eine/r von uns die Straßenseite oder geht auf der Fahrbahn weiter. Man nickt sich zum Gruß mehr zu, als dass man einen Gruß ausspricht, auch wenn die 1,50 m Abstand weit überschritten sind.
Früher - früher??? vor wenigen Wochen! - hätte mensch in dieser Situation kopfschüttelnd oder verärgert sich gefragt: was hab ich dem oder der den getan???

All das ist auf einmal "normal" geworden.


Eine Bekannte berichtete, dass sie inzwischen Beklemmungen kriegt, wenn sie in einem Film Leute in einer vollen Disco oder im Konzertsaal, dichtgedrängt in der U-Bahn oder im einstmals alltäglichen Großstadtgewimmel sieht.

Ich fasse mir an den Kopf! Was um Himmels willen passiert hier eigentlich?

Wie wird es sein, wenn dieser Wahnsinn irgendwann mal vorbei ist?
Werde ich jemals wieder unbefangen öffentliche Verkehrsmittel benutzen können?
Werde ich jemals wieder jemand arglos die Hand geben?
Eine gute Freundin, meine Schwester, meine Nichte zur Begrüßung unbeschwert umarmen?

Ich weiß es nicht.
Ich. Weiß. Es. Einfach. Nicht.

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