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Montag, 14. Februar 2022

Panta rei

"Never change a running system" – wer diesen Satz erfunden hat, weiß ich nicht. *)

Sicher in den Kindertagen des Microsoft Betriebssystems Windows schien das eine gute Devise zu sein. In jener Zeit, in der jedes Softwareupdate oder Betriebssystemupdate zu einem finalen Absturz des PC führen konnte und einem dann manchmal nichts anderes übrigblieb, als den ganzen PC neu zu installieren. Damals glaubte ich heilig daran: "Lass  bloß die Finger weg von Systemveränderungen und Updates, zumindest so lange, bis wirklich alles in alle Ecken hinein getestet und ausprobiert ist."

Es gibt kaum ein dümmeres Motto, das viral hätte gehen und sich in die Köpfe der Menschen hätte festsetzen können. Jedes System ist immer, immer! in Veränderung begriffen.

Um beim PC zu bleiben: auch wenn ich mein Betriebssystem und meine Programme nie update, verändert sich mein PC fortlaufend. Einfach dadurch, dass ich mit ihm arbeite. Ich speichere Dateien ab, lösche andere, verschiebe eventuell ganze Ordner, der Arbeitsspeicher füllt sich und leert sich und behält dabei doch immer "eins im Sinn", usw. Dadurch passiert im Hintergrund allerlei, und auch (oder gerade) wenn ich nie auf Betriebssystem- oder Programmebene eingreife, kann sich früher oder später das eine oder andere verhaken und mich zwingen, doch bewusst auf irgendeine Weise einzugreifen.

Was für technische Systeme gilt, gilt für lebendige 'Systeme' noch viel mehr.
Das ist mir dieser Tage erneut deutlich – und schmerzlich – bewusst geworden. Wo Lebendigkeit ist, kann niemals Stillstand sein. "Komm aus Deiner Komfortzone" oder "Geh aus Deiner Komfortzone" schallt uns so oft aus den Mündern von Speakern (Referenten also), Coaches, Weisheitslehrern entgegen, dass wir am liebsten ermüdet die Köpfe abwenden. Doch offenbar gibt es keine wirkliche

Alternative zum In-Bewegung-Bleiben, will ich wirklich lebendig und authentisch sein. Immer, wenn ich es mir irgendwo richtig gemütlich gemacht habe, das Gefühl habe, dass das jetzt immer so weitergehen könne und ich endlich richtig angekommen sei, kommt von irgendwoher eine heftige Aufforderung, auf irgend eine Weise aufzubrechen.

Auch die Vernetzungsplattform, auf der ich seit ein paar Monaten aktiv bin, ist da keine Ausnahme. Sie ist nicht das Schnuckelhäuschen zum entspannt Es-Mir-Gutgehen-Lassen, als das sie mir zeitweise erschien. Sie ist ein lebender Organismus. Als Teil dieses Organismus bin ich auch Teil seiner immerwährenden Veränderung, ob ich das nun bewusst mit gestalte oder unbewusst geschehen lasse. Ich entscheide mich fürs bewusst mit gestalten.

Innerhalb dieser Plattform hatte ich eine regional bezogene Gruppe mitgegründet. Die Idee dahinter: verstreut lebenden Menschen den Kontakt zu nicht allzuweit entfernt lebenden Gleichgestimmten zu ermöglichen. Anfangs schien es dort sehr nett und angenehm zu sein. Schien die Liebe zur regionalen Landschaft und Wesensart der Menschen neben einer vermuteten grundsätzlichen Gleichgestimmtheit Verbindung genug. Mit der Zeit erwies sich aber, dass einerseits diese Gleichgestimmtheit so nicht existiert. Dass andererseits die Liebe zu Landschaft und Wesensart nicht verbindend genug ist. Und dass das jeweilige So-Sein einzelner Mitglieder so unterschiedlich ist, dass manches nicht zusammengeht. Sicher nicht, wenn nicht bei allen ein ganz, ganz großer Wille zu gegenseitigem Vertrauen, zu Offenheit und zu Akzeptanz des Andersseins besteht. 

Wo der Wunsch, dirigistisch die Denk- und Fühlrichtung innerhalb der Gruppe zu bestimmen bzw. vorzugeben auf den Wunsch zu freiheitlichem, authentischem Gespräch über eben jene Denk- und Fühlrichtungen stößt, wird es sehr schwierig. Wenn der Dirigismus von dem Menschen ausgeht, der der Hüter der Gruppe sein sollte, wird eine 'Zusammensetzung' **) und gemeinsam innerhalb der Gruppe konstruktiv und kreativ an etwas Herumdenken unmöglich.
Das ist schade.
Aber auch hier gilt, wie überhaupt angesichts schwieriger, belastender Situationen: "Change it, leave it, or love it." Veränderung kann eben auch bedeuten, etwas zu gestalten indem ich es verlasse. 

So gerne ich mir das gemütliche Wohnzimmer mit gemeinsamem Träumen über die geliebte Landschaft und Wesensart der Menschen erhalten hätte… ich musste tränenreich erkennen, dass das, was gemütlich schien, eine starre, einengende Umgebung war. Keine einladende, weiträumige Wohnlandschaft. Sondern ein 16 qm-50er-Jahre-Nachkriegswohnzimmer mit Sofa, steifen Sesseln, Stehlampe und Nierentisch. Nachdem mir das deutlich geworden war, lag der weitere Weg klar vor mir. Dieser Starre und Einengung meines Träumens und meiner Kreativität mich weiter auszusetzen, wäre alles andere als liebevoller Umgang mit mir selbst gewesen. So stand ich auf, räkelte mich, schrieb einen Abschiedsgruß in die Runde  und verließ den Raum.

Vielleicht hatte ich sowieso zu viel Zeit nicht nur in jenem Wohnzimmer, sondern in dem gesamten Schnuckelhäuschen verbracht. War ich nicht doch in der digitalen Welt hängengeblieben, anstatt wirklich zu leben? Eine interessante Erkenntnis, dass das auch bei 'alternativen' Plattformen geschehen kann. Nicht nur bei den Facebooks diese Welt, die aufs Anwesend-Halten der User programmiert sind.

Gerade in diesen Zeiten, in denen wir noch immer durch die Krönchen-Situation mehr isoliert von einander als mit einander leben, ist wohl die Verführung groß, in solchen digitalen Netzen sich zu verstricken. Jetzt bin ich gespannt darauf, wie es mir gelingen wird, ein gesundes Gleichgewicht zwischen digitaler und echter Vernetzung zu finden.

 " Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen (…)
Wohlann denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!" ***)

*) Ich erinnere mich aber noch ganz genau an die Situation, in der ich ihn zum ersten Mal hörte: in meinem kleinen, kuscheligen Büro im alten Amt für Kirchenmusik in Frankfurt am Main in jener 30er-Jahre-Villa, in der ich die allerschönsten Jahre meines Berufslebens verbringen durfte. Ausgesprochen wurde er von der damaligen Vorsitzenden des Verbandes, in dem die Posaunenchöre zusammengeschlossen sind; ob im Zusammenhang mit dem Netzwerkserver oder in betriebsorganisatorischem Zusammenhang vermag ich nicht mehr zu sagen.

**) Es soll ja gerade keine Auseinander-Setzung sein

***) Hermann Hesse, "Stufen"

5 Kommentare:

  1. Das hast du sehr ehrlich formuliert, in ganz klaren Worte, ohne Verletzungen zu verteilen, danke dafür. Friderike

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    1. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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    2. ...wegen eines Tippfehlers... habe ich ihn entfernt.
      Was ich sagen wollte:
      Und ich danke Dir, liebe Friderike, für Deinen Kommentar.

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  2. Lieber Silberstern,

    danke Dir dafür!

    Es zeigt mir auch wieder deutlich auf, dass ich nicht falsch liege mit Gefühlen die auch ich in diesem Schnuckelhäuschen habe, wobei ich bisher dort noch den ein oder anderen Raum für mich finden konnte. Aber auch ich fühle, dass das Haus nicht so gross und weitläufig ist, wie ich mir dachte bzw. wie mir auch erzählt wurde, dass es ist. Immer wieder sah ich in letzter Zeit Menschen aus Räumen des Häuschens ausbrechen, ja wollte auch selbst meine sieben Sachen packen und ausziehen. Dann wurde ich eingeladen, diesen oder jenen Raum doch zu besuchen, in die Küche oder zum hausverwalter geladen, meine Anliegen vorzubringen, um beschwichtigt zu werden, es doch alles nicht so schlimm wie ich es sähe. Immer wieder habe ich daraufhin meine eigentlich schon gefasste Entscheidung wiederrufen. Die Koffer wieder ausgepackt um doch zu bleiben um wenige Tage später aufs Neue wieder ans packen zu denken. Es sind die liebevollen Menschen dort, die mich nach wie vor bleiben lassen, aber auch ich verlasse immer öfter das Häuschen um mich draussen umzusehen, ob es nicht auch andere Häuschen gibt oder ich mir sogar mein eigenes Häuschen wieder renoviere um dort mein eremitisches Dasein, das ich davor geführt habe, wieder aufzunehmen- Allein, mit allem eins, im Fass. Es täte mir Leid um die schönen Kontakte, die guten Gespräche, um "Das Gute, das Wahre und das Schöne" wie es Raphael Bonelli immer wieder nennt, dass mir durch meinen Auszug, zurück in mein Fass möglicherweise entgehen könnte.

    So bin ich immer wieder unsicher, verwirrt und zerrissen ob der Dinge die so vorgehen und oft auch traurig mit ansehen zu müssen, wie mache in ihrer Unachtsamkeit (ich hoffe ja nicht, dass es Vorsatz ist) das Porzellan zerschlagen, das andere eben neu gekauft haben oder eben erst fertig geworden sind, wieder zusammen zu kleben.

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    1. Lieber Diogenes,
      ich danke Dir von Herzen für diese ausführliche und sensible Reaktion, Antwort. In der Tiefe geht es, glaube ich noch einigen anderen Menschen immer wieder so.

      "Es sind die liebevollen Menschen dort, die mich nach wie vor bleiben lassen", ja. - So lass es uns weiter versuchen, im Netzwerk ein Netzwerk des Liebevollen aufrecht zu erhalten, solange es geht, ohne sich selbst zu verbiegen.

      Gerade auch mit Deinem letzten Absatz hast Du in Deiner Reaktion wunderbar in Worte gefasst, wie auch ich es empfinde und erlebe.
      Danke!

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