Eine Weihnachtsgeschichte von Anastasia Stucky
Es war kalt und
dunkel.
Ein eisiger Wind
fegte über die Felder und Straßen. Jonathan, ein kleiner Mäuserich, zog den
Kragen seiner Jacke höher und schob die Mütze tiefer ins Gesicht.
Während er den
Feldweg so entlang ging, dachte er nach.
Er war allein auf
sich gestellt, hatte keine Eltern und Geschwister.
Wohin er ging war
ihm egal.
Er achtete nicht
auf die Umgebung, die er durchwanderte, sah nicht die Rehe, die äsend am Waldrand
standen, spürte nicht die feinen Schneeflocken, die weich tanzend auf ihn herab
fielen. Und er bemerkte
auch nicht die Sterne, die funkelnd am Himmel leuchteten.
Einzelne Bäume
warfen große, dunkel Schatten, die wie Gespenster aussahen.
Jonathan hatte
keine Angst.
Er war nur so
unheimlich traurig.
In den Häusern,
an denen er bisher vorbeigekommen war, brannte Licht und die Familien waren
ausgelassen und fröhlich.
Sie sangen und
schwatzten und niemand bemerkte ihn, wenn er hier und da durch die vereisten
Scheiben hineinblickte.
Niemand war mehr
draußen, nur er.
Im nächsten Ort,
in den er kam, blieb er beim Brunnen stehen.
Er sah sich um.
Leere wohin er
auch schaute.
Er setzte sich
auf einen kalten Stein.
Sein Magen knurrte
und er hatte Durst, aber all seine Vorräte hatte er schon verzehrt und
nirgendwo hatte er etwas Essbares finden können.
Seine Gedanken kreisten
wirr in seinem Kopf.
Er schaute zum
Himmel.
Ihm war, als sehe
er dort das liebe Gesicht seiner Mutter, aber… es war nur ein Nebelstreifen.
Er wusste nicht,
wie lange er schon auf der Wanderschaft war.
Seine Füße
schmerzten und waren eiskalt, ebenso seine Hände, die er tief in die Tasschen
seiner Jacke geschoben hatte.
Er spürte seinen
Körper kaum noch.
Er blickte sich um und sah eine Gestalt auf den Brunnen zukommen.
Jonathan blieb ganz still sitzen und bewegte sich nicht.
Ein kleines Mädchen kam mit einem Kessel zum Brunnen.
Es warf den an
einem Seil befestigten Eimer in den Brunnen und zog ihn wieder hinauf.
Nanu, es geht ja
so leicht!
Sie schaute
enttäuscht in den leeren Eimer.
"Wieder kein
Wasser, weil der Brunnen gefroren ist." sagte sie leise vor sich hin.
Traurig setzte
sie sich vor den Brunnen.
Die Mutter hatte
sie Wasser holen geschickt, es sollte heißen Tee und eine Suppe geben, aber
ohne Wasser ging das nicht.
Sie überlegte,
was sie tun konnte, wo sie Wasser herbekommen könnte, aber es fiel ihr nichts
ein.
Sie schaute sich
um und entdeckte plötzlich, klein und zusammengekauert Jonathan auf dem Stein
sitzen.
Dieser war starr
vor Schreck, als ihre kleinen, für ihn jedoch riesigen Hände ihn umfassten und
empor hoben. "Wer bist du denn?", sagte das Mädchen zu der Maus.
"J-J-J-Jonathan", sagte dieser zitternd und bibbernd.
Sie sah ihn sich
von allen Seiten an.
"Ich heiße
Emily und soll für meine Mutter Wasser vom Brunnen holen, aber der ist zugefroren.
Und nun kann meine Mutter keinen Tee und keine Suppe kochen." sagte sie. "Und dabei
habe ich so einen Hunger und mich so sehr auf die Suppe gefreut."
Jonathans Magen knurrte
so verdächtig und laut, dass sogar Emily es hören konnte.
Er dachte
blitzschnell nach und meinte, Emily könnte doch Schnee nehmen, der beim Kochen
zu Wasser würde. So hatte seine Mutter es im Winter auch immer gemacht.
Emily fand die
Idee gut und füllte den wichen Schnee in ihren Kessel.
Als dieser voll
war, wollte sie heim.
Sie sah sich
Jonathan noch einmal an.
Sollte sie ihn
bei der Kälte hier draußen lassen?
Hatte er nicht
auch einen warmen Platz in der Nähe des Ofens verdient?
Sie nahm ihn hoch
und setzte ihn vorsichtig in die Tasche ihres Mäntelchens, sah sich noch einmal
um und ging heim.
Als Emily ihr erklärte, dass der Brunnen gefroren war und sie deshalb Schnee mitgebracht hatte, war die Mutter erstaunt über den Einfallsreichtum ihrer Tochter.
Sie machte sich sofort an die Arbeit und bereitete Tee und Essen zu.
Emily ging in die Schlafkammer und zog ihren Mantel aus.
Aus der Tasche holte sie Jonathan und setzte ihn in ihre Schürzentasche.
Dann ging sie zur Mutter und sah ihr beim Kochen zu.
Mutter sah Emily mit einem warmen und liebevollen Lächeln an.
"Stille Nacht…" begann sie zu singen.
"Heilige Nacht…" sang Emily mit.
Ihr Blick ging abwechselnd von ihrer Mutter hinüber zum geschmückten kleinen Tannenbaum, der neben dem Fenster stand.
Die Mutter holte
die Weihnachtskrippe aus dem Schrank und stellte sie unter den Baum.
Aus einer
Schachten holte sie die Figuren und setzte sie vorsichtig in die Krippe. Da
waren Josef und Maria, der Esel und der Ochse, aber wo war das Jesuskund? Die
Mutter suchte überall, konnte es aber nicht finden.
Nach langem hin
und her fiel es ihr wieder ein. Die Figur war im vergangenen Jahr beim
Einräumen hinuntergefallen und zerbrochen.
Eine Krippe ohne
Jesus?
Sie wollte die
Krippe wieder wegräumen, aber Emily protestierte.
"Weihnachten
ohne eine Krippe?" schluchzte sie.
"Aber zu der
Krippe gehört doch das Jesuskind", meinte die Mutter, "ohne diese Figur
macht das keinen Sinn."
Da hatte Emily
eine Idee.
Sie ging hinüber
zur Krippe, kniete davor und holte Jonathan aus ihrer Schürzentasche.
Vorsichtig legte
sie ihn in die Krippe, stand auf und ging wieder zurück zu ihrer Mutter.
Stolz erklärte
sie ihr: "Wir haben zwar kein Jesuskind mehr, aber dafür haben wir jetzt Jonathan,
die Weihnachtsmaus."
Die Mutter
staunte und lachte.
Sie nahm ihre
Tochter in die Arme.
Dann sangen sie
Weihnachtslieder, aßen von der Suppe, und Jonathan bekam ein paar Brotkrumen.
So war es doch
für alle ein schönes Weihnachtsfest.
Geschichte gepostet mit freundlicher Genehmigung durch die Autorin.
©Anastasia Stucky
Alle Abbildungen gefunden auf Pinterest.
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