Zur Zeit muss ich mir den ersten Satz des Textes vonDawna Markova, den ich mir über dieses Jahr geschrieben habe, oft wiederholen und erneut durchlesen: "Ich werde kein ungelebtes Leben sterben."
Aber was ist gelebtes
Leben in diesen Zeiten? In denen die Welt so klein und vor allem menschenleer
geworden ist?
Als ich letzten Mittwoch aus akutem Anlass zur Hausärztin musste - eigentlich sollte ich sagen: durfte, denn mit 'trivialen' oder chronischen Sachen darf man nur von der telefonischen Sprechstunde Gebrauch machen oder von einem "e-consult" via Computer – musste ich auf dem Weg vom Auto zur Praxis weinen vor Glück, endlich mal etwas anderes zu sehen als die immer gleichen Häuser des Dorfes, und vor gleichzeitig anwesender Trauer und beißendem Isoliertheitsgefühl. Student/inn/en waren auf der Straße unterwegs von hier nach da, teils zu mehreren und im Gespräch mit einander wie im normalen Leben. Und die Atmosphäre da zwischen den historischen Häusern des Noorderhaven-Viertels war wie immer. Einige der Häuser – bis vor wenigen Jahren war hier ein offizielles Huren-Viertel – werden gerade umgebaut. Andere sind schon Studentenwohnungen geworden. Lieferwagen standen herum, Bauarbeiter waren mit einander im Gespräch, von den Baustellen tönten die typischen Handwerker-Radiosender.
So viel normales Leben hatte ich seit Mitte Juli, meinem letzten Aufenthalt in meinem anderen Zuhause in Frankfurt, nicht mehr erlebt.
Was also ist
gelebtes Leben unter diesen Umständen?
Zuallererst jeden
Tag aufs Neue eine Anstrengung.
Wieder einmal muss ich mein schon oft zitiertes Bild von Münchhausen hervorholen, der sich am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf zieht. Genau das ist es: Jeden Tag wieder sich aus dem Morast befreien, der eine unweigerlich nach unten ziehen, aufsaugen will.
Der nächste wichtige Punkt: das Grübeln anhalten. Von Sandra Lau https://www.sandra-werner.at/ habe ich in einem ihrer Videos den Tip bekommen, sich vorzustellen, dass man oben im Oberkopf, sozusagen unterhalb des Kronenchakras, denkt. Probiert es mal aus, liebe Leserinnen, liebe Leser! Schaut, was passiert.
Mir hilft es. Wenn ich 'oben' denke, kann ich nicht finster grübeln.
Noch ein wichtiger Schritt: aus dem Spaziergang ein Erlebnis machen. Die Umgebung immer wieder so betrachten, als wäre sie für mich völlig neu. Die Tiere im Hirschgehege nicht nur sehen, sondern wahrnehmen. Auch die Umgebung im Dorf betrachten, als sei ich hier im Urlaub. Manchmal hilft es mir auch, nach Fotomotiven für meine Statusmeldung in WhatsApp zu suchen.
Begegnen mir während meiner Runde Menschen? Ihnen nicht nur aus dem Weg gehen - die 1,5 m! -, sondern sie gleichzeitig wahrnehmen und beim Grüßen anlächeln. Wofür leben wir auf dem Dorf, wo man sich noch grüßt, wenn man jemandem begegnet?
Ja, die Menschen. Man sieht hier nicht viele. Wo aber immer welche sind: in der Umgebung des Supermarktes. Auch sie kann ich wahr-nehmen. Maske im Gesicht oder nicht. Anstatt gesenkten Hauptes oder unendlichen Blickes einander in großer Entfernung zu passieren und mit eingezogenen Schultern so zu tun, als sei man nicht da: aufrechten Ganges ihnen ins Gesicht sehen. Ich geh ja nicht einkaufen, also hab ich auch keine Maske auf. Und dann: lächeln. Grüßen. Den anderen mitteilen: ich sehe Dich. Ich sehe Dich, Mit-Mensch. Ich sehe Dich mit liebevollen Gedanken und mit Mit-Gefühl.
Das hilft mir. Und vielleicht auch ihnen.
So weit für heute
die ersten Ideen, was 'Leben leben' in diesen Zeiten bedeuten kann.
Wird fortgesetzt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen