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Donnerstag, 30. September 2021

Und doch

Mit diesem Bild wird die Redewendung "zwischen zwei Stühlen sitzen"
illustriert und erklärt im Deutschlernerblog

Im Luchterhand-Verlag ist im vergangenen Jahr ein Büchlein mit dem Titel "Trotzdem" erschienen.  Es enthält den Dialog, den Alexander Kluge (von München aus) und Ferdinand von Schirach (von Berlin aus) am 30. März 2020 in zwei Teilen, am Vormittag und am Nachmittag, via eines Instant-Messenger-Dienstes führten. Sie versuchen darin, 17 Tage nach Beginn des ersten Lockdowns, für sich eine Einordnung des Geschehens, in der viele philosophische Gedanken(gebäude) zur Sprache kommen und viele Lebensbereiche berührt werden. Ich bekam es kürzlich von einer Freundin geschenkt.

Der Vormittagsdialog endet in einer Überlegung über das Beobachten und Schreiben: am besten von einem Ort aus, in dem man einerseits mitten im Geschehen und andererseits abgegrenzt ist – wie z.B. im Café. Daraus sprangen mir gerade eben zwei Sätze entgegen.

"Für alle Menschen, die schreiben, ist der beste Platz zwischen den Stühlen" zitiert Ferdinand von Schirach die Schweizer Journalistin Margrit Sprecher.
Und Kluge ergänzt: "Ich glaube, dass das ganz wahr ist. Die besten Themen liegen zwischen allen Themen." (S. 41)

So fühle ich mich dieser Tage mehr als einmal: zwischen allen Stühlen. In der starken Polarisierung, die zur Zeit so weit verbreitet ist, kann ich mich ganz und gar nicht zuhause fühlen. In so vielem anderen zur Zeit auch nicht, keine Frage. Wenn man so will, habe ich innerlich eines meiner beiden Zuhause verloren. Die Entscheidungen, Maßnahmen, Regelungen, die in Deutschland verabschiedet und praktiziert werden, machen mich frösteln. Es gibt Menschen, die mich dorthin ziehen, aber die Umstände tun das Gegenteil. Verglichen mit der Art und Weise, in der ich hier leben kann, würde ich viel, viel Freiheit aufgeben müssen bei einem längeren Besuch in Deutschland.

So versuche ich, meinen Weg zu finden in all diesem Durcheinander, das sich als Strategie gegen eine ausgerufene Pandemie geriert. Auch schreibend, wie nicht zu übersehen ist. Manchmal scheint mir, das wird immer schwerer, je länger dies alles andauert. Auch das Schreiben, übrigens. Vielleicht lässt  einfach die Kraft nach?

Schon damals, ganz zu Beginn dessen, was viele von uns – vorsichtig geworden – mit 'die aktuelle Situation' zu umschreiben sich angewöhnt haben, sehen von Schirach und Kluge klar die Gefahren dessen, was auf die bis dahin unerschütterlich auf die Unverletzbarkeit der Grundrechte für jeden Menschen bauenden Gesellschaften zukam.

"Die Decke der Zivilisation ist dünn. Niemand hätte sich vor zwei Monaten vorstellen können, dass wir diesen Ausnahmezustand erleben", so von Schirach (S. 70)
"Es ist die Wahl zwischen Sicherheit und Freiheit." – Kluge (S. 72)

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Darauf antwortet von Schirach mit einem Gleichnis, das auch in einem sehr lesenswerten Interview, das auf der Website des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger nachzulesen ist: "Stellen Sie sich vor, dass Sie morgen nach New York fliegen wollen. Zwei Flugzeuge stehen dafür bereit. Um in das erste Flugzeug einsteigen zu können, müssen Sie sich sehr streng kontrollieren lassen. Ihr Gepäck wird durchleuchtet, Sie müssen sich ausziehen, Ihr Laptop wird geöffnet, die letzten E-Mails durchgesehen, Ihr Handy wird ausgelesen. Das Ganze dauert zwei Stunden. Das zweite Flugzeug können Sie ohne jede Kontrolle betreten. Welches Flugzeug wählen Sie? Tatsächlich werden die meisten Menschen das erste Flugzeug nehmen. Sicherheit ist uns näher als Freiheit. Wir achten in einer Krise die Freiheit gering, sie scheint doch nur etwas für Sonntagsreden zu sein. Wenn es darauf ankommt, scheint sie plötzlich nichts mehr zu zählen. Offen gesagt: mich beunruhigt das sehr."

"(…) es darf nicht zu lange dauern. Autoritäre Strukturen können sich verfestigen, die Menschen gewöhnen sich daran. Erosionen sind langsame Abtragungen, keine plötzlichen Ereignisse. Umso länger die Krise dauert, umso strenger muss geprüft werden, ob die Einschränkungen noch aufrecht erhalten werden müssen." führt er in dem Interview weiter aus.

Und nun dauert es. Und dauert. Ganz sicher zu lange. Die strenge Prüfung, über die von Schirach spricht, hat nie stattgefunden. Ich will jetzt nicht diejenigen zitieren, die sagen: das sei ja auch der Zweck der Übung.

Und ganz bewusst will ich mich nicht weiter verstricken in meine Müdigkeit, meine Erschöpfung.

Sonnenaufgang im Winter im Park hinterm Haus
Dann schließe ich lieber mit den Gedanken, die auch das Büchlein abschließen, sie sind von Ferdinand  von Schirach, der darüber sinniert, dass wir die Krise auch als Chance nützen könnten. Ich träume mit ihm – was heute in Zeiten von QR-Codes und grünen oder gelben Pässen schwerer fällt als noch Ende März des vergangenen Jahres -, ohne allerdings direkt auch in seinen Traum von einer Europäischen Verfassung einzusteigen:

"Warum sollte zum Beispiel nicht jedem eurpäischen Bürger das Recht zuerkannt werden, dass seine Daten ausschließlich im selbst und keinem anderen – keinem Unternehmen, keiner Organisation und keinem Statt – gehören? Warum sollten wir nicht einen echten Anspruch der Menschen auf eine intakte Umwelt festschreiben? Und warum sollten wir nicht endlich ein für alle Mal festlegen, dass wirtschaftliche Interessen stets und an jedem Ort dieser Welt hinter den universalten Menschenrechten zurücktreten müssen?"(S. 75)

Genau, warum eigentlich nicht?!

"(…) solche Forderungen (…) sind tatsächlich nicht weniger utopisch als 1776 in Amerika zu erklären, jeder Mensch habe sofort das Recht auf Leben, auf Freiheit und darauf, nach Glück zu streben. Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt." (ebd.)
Ja.

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